Der Gang vor die Hunde (German Edition)
künstlich, sie fand etwas »vom Jargon eines äußerst gehobenen Conférenciers«, von »metaphysischer Operette«. Nur Labude und Fabians Mutter überzeugten sie mit ihrer Menschlichkeit. »Alles übrige ist Geschnipsel flächiger Natur ohne Tiefenwirkung: halbverfaulte und ganz verfaulte Typen aller Schichten, mit viel Sexualität und wenig Liebe inmitten Politik und Arbeitslosigkeit. […] Für einen Fabian, für einen ›anständigen‹ Menschen, für einen Normalmoralisten scheint kein Platz in der Welt von heute zu sein. Kunststück: kein Geländer und kein Leiterlein, das nicht aus Glanzpapier geschnitten wäre, kunstgewerblich, verspielt. Wohin rollst du, Fabian, Äpfelchen?« Rüthels letzter Satz spielt auf Leo Perutz’ Roman an, der die Orientierungslosigkeit seines Protagonisten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg geografisch stark ausweitet, er hetzt ihn quer durch Europa (
Wohin rollst du, Äpfelchen
?, 1928 ).
Unabhängig von Rüthels Kritik bleibt
Fabian
durch die Ernst-Friedrich-Referenz, durch das Duell der beiden Radikalen, die Bürgerkriegsvision und vieles mehr ein eminent politischer Roman. Auch wenn sich der Protagonist ebenso wenig wie der Autor parteipolitisch klar verorten lässt, steht er politisch links und legt aufklärerisches Engagement an den Tag, und das heißt hier auch: ein pazifistisches. Auch wenn das Land in der Vision des Romans auf einen Bürgerkrieg zumarschiert – es kam dann doch anders –, lehnt Jakob Fabian jede Art von Krieg eindeutig ab. Noch im Schlusskapitel tritt er dem Leuteschinder aus seiner Militärzeit auf die Füße; in der jetzt vorliegenden Fassung bespöttelt er die nationalen Heiligtümer in Berlin. Schon in der abgemilderten Version galt
Der Gang vor die Hunde
als dekadent und obszön, was dazu führte, dass
Fabian
1933 auf dem Berliner Opernplatz von den Nazis ins Feuer geworfen wurde. Es steht zu vermuten, dass der Roman, wäre er bereits 1931 in der jetzt vorliegenden Fassung erschienen, zu noch schwereren Sanktionen gegen den Verfasser geführt hätte.
Die vorliegende Ausgabe bietet jetzt endlich die Gelegenheit, das Leseerlebnis zu haben, das Kästner für seine Zeitgenossen ursprünglich vorgesehen hatte. Der originale Duktus ist wiederhergestellt, die Streichungen sind wieder eingefügt – und wir können selbst beurteilen, wie gefährlich Literatur einmal sein konnte.
S. H.
München,
im Februar 2013
Literaturhinweise und Siglen
Erich Kästner: Die Revolution von oben. In: Werke. Hg. von Franz Josef Görtz. Band VI : Splitter und Balken. Publizistik. Hg. von Hans Sarkowicz und F. J. Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München, Wien: Carl Hanser 1998 , S. 121 – 125 [zuerst 1928 ].
–: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Stuttgart, Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1931 [ EA ].
–: Der Herr ohne Blinddarm. In: 30 neue Erzähler des neuen Deutschland. Junge deutsche Prosa. Hg. und eingeleitet von Wieland Herzfelde. Berlin: Malik-Verlag 1932 , S. 441 – 451 .
–: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Stuttgart, Hamburg: Rowohlt, 31 .– 40 . Tausend 1946 .
–: Gesammelte Schriften in sieben Bänden. Band 2 : Romane. Zürich: Atrium, Berlin: Dressler, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1959 .
–: Gesammelte Schriften für Erwachsene. 8 Bände. Band 2 : Romane 1 . München, Zürich: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 1969 [ GE ].
–: Mein liebes, gutes Muttchen, Du! Dein oller Junge. Briefe und Postkarten aus 30 Jahren. Hg. von Luiselotte Enderle. Hamburg: Knaus 1981 [Kästners Briefe an seine Mutter werden
nicht
nach dieser Ausgabe zitiert, sondern nach den unverkürzten, unbearbeiteten Briefen im Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach, MB ].
–: Werke. Hg. von Franz Josef Görtz. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1998 :
Band I: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. Hg. von Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann.
Band III : Möblierte Herren. Romane I. Hg. von Beate Pinkerneil.
Band VI : Splitter und Balken. Publizistik. Hg. von Hans Sarkowicz und F.J.G. in Zusammenarbeit mit Anja Johann.
–: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972 . Hg. von Sven Hanuschek. Zürich: Atrium Verlag 2003 [B].
Maximiliane Ackers: Freundinnen. Ein Roman. Berlin 1923 .
[anonym:] Gedruckter Dreck. In: Völkischer Beobachter (München), 15 ./ 16 . 11 . 1931 .
Julius Bab: Hamlet, Schaperstrasse 17 . Erich Kästners Buch »Fabian«.
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