Der Gang vor die Hunde (German Edition)
meinte die Moll und kramte in ihrer Tüte.
»Das ist Makart, ein Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet.« Cornelia wankte und stürzte neben Makart in den Tumult.
»Spring ihr doch nach«, sagte die Moll. »Aber du hast Angst, die Glasscheibe könnte zerbrechen. Immer hast du Angst, das Glas zwischen dir und den Anderen könnte zerbrechen. Du hältst die Welt für eine Schaufensterauslage.«
Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah Fabian den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und fuhr wie ein Wellenreiter über das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug die Kulp, die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis das Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geldschein ans Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die Menschen unter ihm sprangen wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück und schnellten wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge durchbohrt. Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte sich, verzerrten Gesichts, dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die Bildhauerin auf, umschlang die Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit aus dem Mund. Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger, lang wie ein rotes Gummiband, und sie war zum Reißen gespannt. Wilhelmy rang nach Luft und lachte.
»Wunderbar«, rief Irene Moll. »Das grenzt an Tauziehen. Wir leben im Zeitalter des Sports.« Sie zerknüllte die leere Tüte und sagte: »Jetzt freß ich dich.« Sie riß ihm die Pelerine herunter. Ihre Finger griffen wie Scheren ineinander und zerschnitten Fabians Anzug. Er schlug ihr mit der Schirmkrükke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los. »Ich liebe dich doch«, flüsterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie kleine Seifenblasen aus ihren Augenwinkeln, wurden immer größer und stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.
Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen führten von dem einen Ende des Saales hinauf zum anderen Ende. Auf jeder Stufe standen Leute. Sie blickten interessiert nach oben und griffen einander in die Taschen. Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den Taschen des Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hintermann beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles in Bewegung. Man stahl emsig, und man ließ sich bestehlen. Auf der letzten Stufe stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und zog dem Vordermann einen bunten Aschenbecher aus dem Mantel. Plötzlich war Labude auf der obersten Stufe. Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und rief: »Freunde! Mitbürger! Die Anständigkeit muß siegen!«
»Aber natürlich!« brüllten die anderen im Chor und kramten einander in den Taschen.
»Wer für mich ist, hebe die Hand!« schrie Labude.
Die anderen hoben die Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er weiter. Nur das kleine Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
»Ich danke euch«, sagte Labude, und seine Stimme klang gerührt. »Das Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!«
»Du bist ein Narr!« rief Leda. Sie stand neben Labude und zog einen großen hübschen Mann hinter sich her.
»Meine besten Freunde sind meine größten Feinde«, sagte Labude traurig. »Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen, auch wenn ich untergehe.«
Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fenster und Dächer. Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, aber sie stahlen weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände in fremden Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
»Um die ist es nicht schade«, sagte Fabian zu dem Freund. »Nun komm!« Aber Labude blieb in dem Kugelregen stehen. »Um mich auch nicht mehr«, flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Menschen in die Tiefe. Aus den Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Giebelkante rangen zwei athletische Männer. Sie würgten und bissen einander, bis der eine taumelte und beide
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