Der Gang vor die Hunde (German Edition)
Wort »zersetzend« steht im Vokabular der Rückschrittler längst wieder an erster Stelle. Verunglimpfung ist eines jener Mittel, die den Zweck nicht nur heiligen, sondern ihn, nur zu oft, auch erreichen.
So wird heute weniger als damals begriffen werden, daß der »Fabian« keineswegs ein »unmoralisches«, sondern ein ausgesprochen moralisches Buch ist. Der ursprüngliche Titel, den, samt einigen krassen Kapiteln, der Erstverleger nicht zuließ, lautete »Der Gang vor die Hunde«. Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag, deutlich werden, daß der Roman ein bestimmtes Ziel verfolge: Er wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten! Er wollte mit angemessenen, und das konnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.
Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende seelische Depression, die Sucht sich zu betäuben, die Aktivität bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise. Und auch die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht – die einer epidemischen Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und der Stille entgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben. Lieber hörte man den Jahrmarktschreiern und Trommlern zu, die ihre Senfpflaster und giftigen Patentlösungen anpriesen. Man lief den Rattenfängern nach, hinein in den Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind und uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen.
Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals schildert, ist kein Poesie- und Fotografiealbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußerste, was er vermag. Wenn auch das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft, ist – damals wie heute – keine Seltenheit. Eine Seltenheit wäre es allerdings, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!
Erich Kästner
München, Mai 1950
Editorische Notiz
Zur Textgestalt
Der vorliegende Band rekonstruiert eine imaginäre Erstausgabe von Erich Kästners Roman
Fabian
unter dem ursprünglich vorgesehenen Titel, den er auf dem Deckblatt der Ausgabe letzter Hand ( 1969 ) folgendermaßen einführt: »Das Buch erschien 1931 . Der vom Autor vorgeschlagene und zunächst zäh verteidigte Titel ›Der Gang vor die Hunde‹ wurde vom Verlag abgelehnt.« ( GE , S. 7 )
Der Roman erschien, unter Fortlassung einiger Passagen und einzelner Ausdrücke des Typoskripts sowie einigen ›echten‹ Korrekturen, unter dem Titel
Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
1931 in der Deutschen Verlags-Anstalt (damals in Stuttgart und Berlin). Für die Nachkriegsausgaben hat Kästner ein Vorwort geschrieben ( 1946 , revidiert 1950 ) und kleine Retuschen angebracht. Vor allem für die erste Werkausgabe, die
Gesammelten Schriften
, die zu seinem sechzigsten Geburtstag 1959 als Gemeinschaftsausgabe der Verlage Atrium (Zürich), Dressler (Berlin) und Kiepenheuer & Witsch (Köln) erschienen, hat er den Text erneut durchgesehen. Dabei hat er stets nur kleinere, aber zahlreiche stilistische Eingriffe vorgenommen, die oft auch nur die Zeichensetzung, die Veränderung der Absätze oder eine Anpassung der Rechtschreibung an die zeitgenössische Konvention betreffen. Die letzte Werkausgabe zu Lebzeiten, die
Gesammelten Schriften für Erwachsene
zu seinem Siebzigsten (München, Zürich: Th. Knaur Nachf. 1969 ), übernahm die Version von 1959 mit erneuten minimalen Änderungen, alle nachfolgenden Drucke folgen dieser Ausgabe letzter Hand, zum Teil mit neu eingeschlichenen Druckfehlern. Den genauen Überblick über diese verschiedenen Fassungen, der entschieden in die Mikro-Philologie hineinginge, könnte eine historisch-kritische Ausgabe erbringen; sie kann hier nicht geleistet werden. Der vorliegende Band verfolgt nicht allein hehre wissenschaftliche Ziele; er will dem lesenden Publikum Kästners Roman so zugänglich machen, wie er vom Autor geplant und gemeint war.
Geboten wird der Text der Urfassung, die sich in Kästners Nachlass erhalten hat und die heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar liegt;
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