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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Platte einen ofenwarmen Stachelbeerkuchen vorbeibrachte – der natürlich von der Haushälterin gebacken wurde.
    Als er brieflich erwähnte, er werde heiraten, kabelte seine Mutter sofort, ob er »das Mädchen herüberbringen würde«. Als Tommy zur Erklärung schrieb, ein Besuch müsse aus Karrieregründen warten, und in ihrem rauschhaften Glück würden sie sich in Form einer kleinen Zeremonie im Salon eines Reverends im New Yorker Queens trauen lassen, vor nur wenigen Freunden und selbstverständlich in Anwesenheit seiner Brüder, gab seine Mutter ihm mit spürbarer Erleichterung ihren Segen. (Der Scheck, den sie dem Brief beilegte, wurde ein nützlicher Grundstock für chinesisches Essen und Marihuana am Abend der Zeremonie.) Dass seine Eltern, ganz wie er erwartet hatte, nicht auf die Idee kamen, ihrerseits den Großen Teich zu überqueren (womit sich für sie herausgestellt hätte, dass der fragliche Geistliche ein blinder schwarzer Sänger war), reichte es wohl zu sagen, dass sie sich darauf freuten, das Mädchen kennenzulernen, und sie wären hocherfreut, wenn Tommy ihnen Fotos von ihr schicken würden.
    »Völlig klar«, sagte Tommy jetzt zu Warren Rokeach. »Ich muss mich so sauber wie möglich von den Boys trennen.«
    »Einzig und allein des neuen Werks wegen.«
    »Einzig und allein des neuen Werks wegen.«
    Ja, ja, das musste es sein. Wenn diese Nacht im Chelsea irgendwohin führen sollte, »die Nacht der kurzen Zigaretten«, wie Tommy sie taufen wollte, als er seine letzte Marlboro schwinden sah, die sich bald zu den Stummeln gesellen würde, die schon den rissigen Linoleumboden dieses schauderhaften Hotels übersäten. Wenn Tommy Gogan’s zweites Album von Quellen tief in ihm beseelt würde, so wie es sein sollte, dann musste es seine Kraft und Substanz aus dem Tommy Gogan beziehen, der er an jenem Tag des Schneesturms geworden war, der im Wohnzimmer des Reverends seinen Anfang genommen hatte. Er musste diesen Geist der selbstsüchtigen Großzügigkeit oder des wohltätigen Egoismus zurückgewinnen, in dem die Gitarre seine Hände nur verlassen hatte, um von Miriam ersetzt zu werden – Picasso-Tage, wenn Gitarre und Frauenkörper, Taille und Hüften und Hals und die Art, wie er beide liebkoste, sich mischten und ein- und dasselbe wurden. Jenen Tagen, in denen ihm selbst aus aufgeschnappten Worten von Passanten Songs zuzufliegen schienen – ein Schwarzer, der sich mit einem Ladenbesitzer stritt, der Lobgesang eines dominikanischen Taxifahrers auf die Freiheitsstatue – oder aus dem verheerenden Brüllen der Hochbahn, die hier unter dem Erdboden entlangdonnerte, aus dem Gerücht eines Barhockerrevolutionärs von einer Entführung mit vorgehaltener Waffe oder einem erzwungenen Geständnis, aus Vetter Lennys wahnsinnigen Baseballplänen bis hin zum verebbenden Bellen eines Hundes auf einer Feuertreppe in der Ferne. Kurze Zeit hatte Tommy diese Stadt besessen und war das Medium ihres geheimen Songs geworden, und die Stadt wollte anscheinend, dass er ihn sang, was alles seinen Ausgang bei der Tatsache nahm, dass Miriam ihn wollte. In ihren Augen hatte die Stadt aufgehört, ihn anzusehen. Im selben Augenblick war er selbst gespannt darauf gewesen sich zu sehen. Sich selbst, sich selbst, in sich selbst musste er auf die Suche nach den Songs gehen, die nicht kommen wollten, die sich dagegen sperrten, komponiert zu werden. Seine kalte Gitarre auf der Bettdecke strahlte Schuldgefühle aus.
    »Had She Ever Lain with Rye? (Wouldn’t Wish to Know)«
    »My Mother-in-Law’s the Real Thing, Comrades«
    »Call Me Not a Tourist’s Irishman«
    Er band sich die Schnürsenkel und verließ das Zimmer, ließ die Gitarre liegen und nahm nur Notizheft und Stift mit, für alle Fälle. Die Flure im Chelsea waren so groß und breit, wie die Zimmer eng und bedrückend waren, auch wenn sie genauso schlecht instandgehalten wurden, der Teppichboden schmierig und schäbig von den Fußschritten aus Tausenden von Jahren. Trotzdem schien sich die Größe des Flurs über die seines Zimmers lustig zu machen. Das Foyer war noch schlimmer mit seinen absurden Kronleuchtern, den Gemälden an den Wänden und den überall herumdümpelnden Möbelstücken, als wäre man auf See. New Yorker Hotels erinnerten manchmal an Potemkinsche Dörfer, zeigten eine falsche Fassade, die mit überschwänglicher Pracht beeindrucken wollte – aber wen bloß? Und die Unterkünfte selber waren schmal wie Särge. Tommys Zimmer war ein Platz zum Sterben,

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