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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Anonymität auslöste. Während sie ihre übliche Schweigetaktik bei Leuten anwendete, die sie seit Jahrzehnten kannte, und außerstande war, mit jungen Paaren auf Tuchfühlung zu gehen, die wahrscheinlich mit verständnisloser Höf lichkeit reagiert hätten, klaffte auf den Gehwegen ein Abgrund zwischen Rose und ihren Mitmenschen auf. Die radikale Grundlage, die aus Roses Empörung das Auftrumpfen einer Idealistin gemacht hatte, war sogar für sie selbst kaum noch eine Erinnerung. Da ihr das Auftrumpfen fehlte, wurde sie einer verbitterten alten Frau peinlich ähnlich. Das Schweigen, das früher unterschwellig mahnend geklungen hatte, war jetzt reines Schweigen. Wenn sich Neuankömmlinge von Blicken oder Gesten der einsamen Gestalt befremdet fühlten, bekamen sie zu hören: Eine Tragödie, ihre einzige Tochter ist in Südamerika umgebracht worden. Oder schnippischer: Ein hoffnungsloser Fall. Eine Rote. Der Mann ist ihr in den Vierzigern weggelaufen, und die Tochter ist nach Manhattan ausgebüxt, aber das war anscheinend nicht weit genug. Damit sie überhaupt noch ein Mann anfasst, hat sie sich mit einem Schvartzen eingelassen, und selbst der hat sich irgendwann davongemacht. Jede andere Frau hätte denverwaisten Enkelsohn zu sich genommen. Aber nein. Der Junge ist nach Pennsylvania zu einer Sekte verfrachtet worden.
    Die Quäker sind keine Sekte? Wie Sie wollen, hier herrscht schließlich Meinungsfreiheit.
    Unter den verbitterten Juden, die ihre Einkaufswagen durch die gekühlten Supermarktgänge schoben, gab es wenigstens die Holocaustdamen, die die Ärmel aufkrempelten und einem die in die Arme tätowierten Nummern zeigten. Rose hätte eine Tätowierung »Verfrühte Antifaschistin« gebraucht.
    Pass auf, ich hab einen Gewerkschaftler mal dazu gebracht, in Ruhe mit einem Kropotkinisten zu sprechen. Dir bedeutet das vielleicht nichts, aber es gab mal eine Zeit, in der die Welten ausgewogen waren.
    Zwischen diesen Ruinen und den Einladungen zu Beerdigungen machte sich Rose auf den weiten Weg ins Zeugenschutzprogramm von Greater Queens. Irgendwo an der Kreuzung, wo die 47 th Road die 64th Terrace auf dem Weg zum 78 th Place und darüber hinaus schnitt, sollte sie in die Menge eintauchen und sich selbst unter den zahllosen Menschen vergessen können, die ohne Erkennen oder Gnade in dem unverständlichen System durchnumerierter Planquadrate wohnten. Das Volk, das Volk – mit dem Volk hatte sie angefangen, als Sechzehnjährige, die ihrem Vater beim Passahmahl zu widersprechen wagte. Wenn dies eine Nacht des Fragenstellens ist, dann habe ich auch eine: Was macht jüdische Sklaverei, so spät in der Menschheitsgeschichte und angesichts all unsres Wissens, überzeugender als alle anderen gegenwärtigen Versklavungsvarianten der Menschheit? Waren wir nicht alle das Volk ? Sie wollte sich für eine Menschheit engagieren, die sich falsche Vorstellungen von Rasse und Glauben hatte aufzwingen lassen. Und doch hatte dieses Engagement die katastrophale Entfremdung zur Folge, nicht nur von ihrem Vater und seinem jüdischen Glauben, sondern von der Menschheit. Ihrer Einsicht gehorchend, hatte sie sich in Zellen unter sowjetischem Diktat treiben lassen, die zur Hälfte vom FBI unterwandert waren. Wieder aufgetaucht war sie mit einem Nervensystem, das so verdrahtet war, dass sie die Welt nur noch alsArrangement von Systemen, Institutionen und Ideologien begriff. Jetzt dachte sie: Jetzt reicht’s mit Polizisten und Stadträten! Jetzt reicht’s mit Bürgermeistern – da kann man ja auch gleich den Papst anbeten! Stattete man einen beliebigen Menschen mit Macht aus, selbst einen Juden, verführte und korrumpierte sie ihn, und mancher rammte sich dann wie Manes ein Messer ins Herz. Wenn man in Rechnung stellte, dass Rose mehr Intelligenz und mehr Rückgrat besaß als die meisten Männer, unter deren unglaubwürdiger Autorität sie den größten Teil ihres Lebens vergeudet hatte, war der Gedanke ernüchternd, dass ihr dieses Schicksal vielleicht nur durch den Zufall ihres Geschlechts erspart geblieben war. Rose Angrush Zimmer war nie zu einem wichtigeren Posten als dem eines Vorstandsmitglieds der Queensboro Public Library gewählt worden, wo sie als einzige Frau unter Richtern, Priestern und Kommerztrotteln saß und bei kaum einer Rede, die sie über sich ergehen lassen musste, ein Wort einwerfen konnte. Genausogut hätte sie die Aschenbecher leeren oder Hamantaschen mit Mohn backen können.
    Nur ihre Gebärmutter hatte sie auf die

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