Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Stretch jedenfalls nicht mehr dieselbe, das kann ich Ihnen flüstern.«
»Sie sind der Vorarbeiter, ja?«
»Sechsunddreißig Jahre lang, aber jetzt hab ich meine goldene Armbanduhr bekommen. Aber ich hab Pläne.«
»Und wie sehen die aus?«
»Sie sehen sie vor sich.« Er machte eine ausholende Geste und setzte ein verschmitztes Gesicht auf, um Rose zu signalisieren, sie hätte gerade seine Domäne oder sein Lehen betreten.
»Sie wollen sich mit Ihren –« Rose vermied Komplizen und Kumpane, weil sie Archies wunden Punkt kannte. »Sie wollen sich hier mit Ihren Freunden den Tag vertreiben?«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Mit diesen Losern? Nee, ich kauf den Laden, dann kann ich ihr Geld einsacken. Ich bau’s zu ’nem kleinen Restaurant aus, mach ’n Durchbruch zum Laden nebenan – ich meine zum benachbarten Geschäft.«
»Ja, ich hab Sie schon verstanden.« Rose musste sich wieder ein Lachen verkneifen angesichts seiner tollpatschigen Galanterie, dieser zarten Blüte auf einem Scheißefeld.
»Ich werd ein Vermögen scheffeln.«
—
Nachdem Rose einmal den Weg zu Kelcy’s gefunden hatte, konnte sie jederzeit zurückkehren.
Archie machte keine Anstalten, sich von seinem Barhocker wegzubewegen, außer wenn er vehement die Ungerechtigkeiten anprangerte, die »Richard E. Nixon« angetan worden waren. Der in Ungnade gefallene Präsident war Archie zufolge die letzte Hoffnung des Landes gewesen, und dann senkte er die Stimme und fügte betrübt hinzu: »Aber dann sind wir alle auf das arme Schwein losgegangen.« Wenn er im Anschluss von den Stammgästen des Kelcy’s – Männern, die nur im Gegensatz zu Archies Intoleranz als liberal angehaucht geltenkonnten – zurechtgewiesen wurde, reagierte er mit einem Lippenfurz oder kniff die Augen zusammen und befahl: »Trinkt euer Bier, und synchronisiert eure Zungen im Schweigen« oder »Ihr wieder. Ich hab keine Zeit, mit euch Wörter auszuwechseln, wie das so schön heißt.« Dann versackte er wieder hinter seinem Blended Whiskey in der Düsternis, aus der er nur kurz aufgetaucht war. Diese Unerbittlichkeit!
An wen oder was fühlte sich Rose dabei erinnert? Obwohl jede vernünftige oder humane Einstellung, ja selbst die englische Sprache auf den Kopf gestellt wurde? Ihr altes Ich!
Denn nach all der Zeit besaß Rose das endlich: ein altes Ich. Dabei hatte sie sich nur auf dem fliegenden Teppich von ihrem Wohnzimmersofa im Scheinwerfer der Bildschirmröhre zu Kelcy’s Bar begeben, und hinterher wurde sie im Handumdrehen in einen traumlosen amnestischen Schlaf befördert. Darin entdeckte sie eine Freiheit ähnlich einer Figur auf einem Gemälde, die aus ihrem goldenen Rahmen stieg und auf Zehenspitzen aus dem Museum in einen Park in der Nähe schlich.
Sie war ein – nein, noch kein Stammgast, nicht nach den hier geltenden Standards. Aber sie kam wieder, Tag für Tag, auch wenn sie von den anderen kaum beachtet wurde. Als Teil der Einrichtung gesehen zu werden, war Roses größter Wunsch: ein unwichtiges Mäuschen zu spielen und keine Funktion auszuüben. Vierzig Jahre und ein paar zerquetschte hatte sie in den Gardens gehaust, manchmal geherrscht und manchmal getobt wie eine Gefangene, in der städtischen Farm, auf die sie sich gestürzt hatte, um der schollenverkrusteten Falle von New Jersey zu entkommen. Und dann hatte sie sich eines Tages in Kelcy’s Bar verirrt und entdeckt, dass sie in ihren Oppositionshaltungen erstarrt war, Haltungen, die gleichzeitig so defensiv wie die eines Ringers und so pompös und verlogen wie die einer Opernsängerin waren.
Ein abgelegtes altes Ich. War sie dann wenigstens eine Antikommunistin ? Nein. Diese Sache von Koestler, Ein Gott der keiner war, war auf ihre Weise genauso aufgeblasen wie das Gegenteil. Eine neue Religion. Sie musste sich von nichts lossagen; Ideale, die ihr ein Leben langKraft gegeben hatten, stützten sie immer noch, weil sie nicht ideologisch, ja weil sie eigentlich nicht einmal Ideale waren. Sie existierten im Raum zwischen zwei Menschen, waren geheime Übereinstimmungen der Körper. Bündnisse derer, die die Welt aushielten. Man fand sie, wo man sie fand, plötzlich und ohne Vorwarnung, bei einer Zusammenkunft oder Kundgebung. Dann suchte man bei den nächsten hundert Zusammenkünften oder Kundgebungen nach ähnlichen Eindrücken und wurde enttäuscht. Vielleicht fand man sie in einer Pickles-Fabrik, in den Freuden echter Arbeitersolidarität. Man fand sie am Tresen vom White Castle, wo
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