Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Miriam und Tommy auf einem unbebauten Grundstück verstreute. Ein unbebautes Grundstück! Ground Zero einer Ghettokindheit, wenn nicht schlimmer – die pockennarbige Lower East Side erinnerte eher an das Material der Wochenschauen aus dem Nachkriegsberlin. Na, sagte sich Rose bitter, wenigstens nach Manhattan hat sie es geschafft! Sechs Monate später, als die Beerdigung hätte stattfinden sollen, und der Junge fehlte, wurde von ihr ferngehalten, wie Rose argwöhnte. Dort sagte Rose kein einziges Wort. Die Trauernden sangen und wiegten sich, die Arme verflochten, Haschschwaden stiegen auf, die Gerüchte vom Niedergang der Szene an der MacDougal Street waren offenbar übertrieben gewesen. Rose ging vor Ende des Love-ins.
Lenny? In einem Metallsarg nach Israel verfrachtet.
Also sah sich Rose nach einer anständigen Beerdigung um, und zu ihrer eigenen Überraschung zeigte sich, dass sie sich darunter eine anständige jüdische Beerdigung vorstellte.
Vielleicht war sie inzwischen meschugge af tojt, wahnsinnig vor Trauer. Eine von denen, die bei einer Katastrophe alle Angehörigen verloren haben und Situationen suchen, in denen sie anonym bleiben und die doch Trauer ausdrücken. Möglicherweise war sie auch gar nicht richtig verrückt, sondern nur ein verrücktes Huhn. Die Kunst bestand womöglich darin, den Akt des Trauerns zu verdünnen und unpersönlich zu machen, ihn aber auch einzufrieren und sich auf Dauer in ihm zu verschanzen. Wir Juden trauern, da ist nichts dabei, und das ist auch nichts Neues. Wenn ich an sechs Millionen Beerdigungen teilnehme, komm ich vielleicht drüber weg. Dann sind die Tode meiner Angehörigen nur noch Regentropfen im Ozean. Ich werde ihre Namen vergessen.
Beerdigungen in Corona, Woodside, Forest Hills oder sogar Manhattan erfüllten noch einen praktischen Zweck: Rose kam aus demHaus, wurde über die Grenzen der Gardens hinaus katapultiert, fort aus dem Labyrinth der Ressentiments. Ihr Wille zum Widerstand ging nämlich zur Neige. Die Beerdigungen machten aus Sunnyside ein Foyer, eine Lobby, einen Bahnsteig in Richtung wichtigerer Ziele. Und von Zeit zu Zeit musste sie aus dem Haus kommen, da reichte es nicht, einkaufen zu gehen oder ihre Briefe aufs Postamt zu schleppen. Rose sah in ihrem herrlichen neuen Farbgerät zu viel fern. An manchen Tagen glaubte sie, durch den Bildschirm ins Außenfeld des Shea Stadium zu fallen, dessen Grün so verführerisch war, als wollte es ihre langjährige Gleichgültigkeit allem Grün gegenüber verspotten. Manche Tage verbrachte sie allein damit, die Farbbalance zu regeln, damit die Schauspieler in Ryan’s Hope nicht so knallig scharlachrote Wangen hatten.
In dieser Stimmung stolperte Rose über die Sitcom, eigentlich nur neugierig, weil sie gehört hatte, sie spiele in Astoria. Sie hatte gedacht, mit der Liebe wäre sie fertig, bis sie ihn sah. Den teigigen Eiferer mit dem immer schmerzverzerrten Gesicht. Am Anfang hörte Rose kaum, was er sagte, lauschte nur der schmerzhaften Musik von Archies Akzent. Er nuschelte und sprach eintönig – die Karikatur eines gebürtigen New Yorkers. Ihre Reaktion? Sie hätte es eigentlich erwarten müssen, aber selbst nach einem ganzen Leben solcher Blitzeinschläge erstaunte es sie immer wieder, dass die Anziehungskraft eines Mannes, ob er nun Richter, Polizist oder nur Dockarbeiter war, mit ihrem Geschlecht verdrahtet war. Erstaunlich, dass die Drähte ihres Gehirns überhaupt noch in diese gottverlassene Gegend hinabreichten! Seit zehn Jahren hatte sie sich von keinem Mann mehr anfassen lassen, außer man zählte das absurde Zucken ihres Vetters in der Nacht, in der er starb. Um bei Rose überhaupt eine Reaktion hervorzurufen, bedurfte es anscheinend eines Mannes, dessen Eitelkeit sie insgeheim absurd fand – das dürfte das einzige gewesen sein, was sie alle gemeinsam gehabt hatten. Vielleicht brauchte sie es, dass die Eitelkeit eines Mannes ihre eigene noch in den Schatten stellte, damit ihr Starrsinn vernünftig wirkte.
Und so wieselte Archie in ihr Herz und ihre Lenden.
Auf Edith konnte sie verzichten – aber sie hatten eben immer Ehefrauen, oder?
An anderen Tagen beobachtete Rose die Gardens, als wären die das Fernsehgerät. Wenn sie hartnäckig genug aus dem Küchenfenster starrte, die Teetasse in ihrem Griff abkühlte, verschwammen die Bewohner, selbst die, die stehenblieben und ihr zuwinkten, als würde Roses Geist Langzeitbelichtungen machen. Sie sah nur Gebäude, Zäune, Wachstum und
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