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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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weder zu fliehen noch in Tränen auszubrechen.
    Archie Bunker war wahrlich ein Neugeborenes in der Verkleidung eines alten Betonkopfs. Rose spürte, wie sie immer tiefer ins Labyrinth seiner charismatischen Dämlichkeit geriet. Und dann war er fertig, und da ihm niemand half, stieg er einfach so vom Podium der Kapelle herab. »Schalom«, sagte er leise und warf dem Sarg im Vorbeigehen einen Blick zu, und angesichts der Scheu, mit der er das fremde Wort aussprach, hatte Rose das Gefühl, es zum ersten Mal zu hören.
    Ja, Archie. Wir haben ein Wort für das, was du deinem Freund Stretch sagen willst, ein Wort, das es in keiner anderen Sprache gibt, und wenn, würdest du es nicht in den Mund nehmen. Für dich wäre es ein Sozenwort, das du nicht mal mit der Kneifzange anfassen würdest. Denn was bedeutete »Schalom«? Nicht nur »Frieden«. »Vollzähligkeit«? Vielleicht. »Gegenseitigkeit«? Auch das vielleicht. Aber auch »Hallo«, »Lebwohl« und sogar »Auf Nimmerwiedersehen«. »Alle Menschen werden Brüder, ja, mach doch, was du willst, jetzt geh mir aus den Augen, ich trage weit bessres Verlangen.« Rose spürte vielleicht zum allerersten Mal, welche Macht das Judentum besaß, dem sie abgeschworen hatte, spürte seinen Einfluss auf das amerikanische Lumpenhirn. Noch bevor sie zu den Überzeugungen gelangt war, die sie von den Juden trennten, war Rose schon Teil einer internationalen Verschwörung gewesen. Ja. Teildes staatenlosen und ironischen Geschlechts des Buchs. Hinter allen Vorurteilen gegen die Juden verbargen sich Bangigkeit und Verwunderung, genau das, was sie jetzt bei Archie sah.
    Als die Folge vorbei und der Fernseher abgeschaltet war, legte sich Rose zitternd aufs Bett. War das möglich? Konnte die Szene bei der Beerdigung wirklich passiert sein? Konnte sie den Kontakt ein zweites Mal herstellen?
    —
    Es war einmal eine Zeit, da war jeder Schritt von Rose auf dem Straßenpflaster ein Vorrücken des Zeigers auf einem moralischen Zifferblatt gewesen, jede Begegnung eine Drehung der Schraube, jedes höfliche Kopfnicken in verschiedene Richtungen von Scham beschwert – Ich hab dich auf dem Kieker, Bürschchen, also glaub ja nicht, du hättest mich auf dem Kieker! Für deine heutigen Kumpane magst du ein aufrechter Sonstwas sein, aber ich weiß noch, mit wem du 1952 gesehen worden bist – mit mir! Im Gefangenendilemma nachbarschaftlicher Schuldzuweisungen spielte Rose den Wärter, klirrte auf dem Korridor mit den Zellenschlüsseln und hatte jedermanns Geständnis in der Brusttasche. Hatte die Partei verlassen, bevor die Partei zerquetscht worden war, sprach nie darüber, inwiefern die Exkommunikation in letzter Sekunde ihr die Teilnahme an der kollektiven Zerknirschung erspart hatte, und ihre Autorität verdankte sich ihrem Werwusstewo. Rose hatte für ihr Parteiabzeichen bloß noch eine hochgezogene Augenbraue übrig, konnte ihre Verbindungen – zu Cops, Bibliothekaren, Lokalbonzen – so wenig abstreiten wie erklären. Ein Purzelbaum von der Umstürzlerin zur Blockwartin! Wenn Rose ihre Küche verließ und zur Greenpoint Avenue ging, setzte sie Segel unter prophetischen Farben, die ein Jahrhundert der Reue verrußt hatte. Ihr Banner: Lieber aussichtslose Sachen als eine Sache, die vielleicht mal aussichtsreich war. Sie zog die Wolke der Geschichte hinter sich her, bedeckte meilenweit das Gelände, und jeder, der Zeuge davon wurde, erschauerte und verstummte.
    Persönliche Trauer stand auf einem anderen Blatt. Die erniedrigtesie auf das Niveau von Klatsch und Tratsch in den Gardens. Das Schwarz der Trauer war unangemessen bedauernswert und alles andere als ein Banner. Sogar im Schweigen ihrer ehemaligen Genossen, das diese zusammenschusterten, wenn Rose auf dem Bürgersteig an ihnen vorbeiging, bekam sie die verleumderischen Echos mit. Der Leim der politischen Paranoia war getrocknet und weggeblasen worden, und Paranoia erwies sich als das letzte, was ihr Verständnis von Nachbarschaftlichkeit noch zusammenhielt. Was übrigblieb, war ein Haufen harmloser alter Leute, die sich über Florida und den Tod unterhielten – und Rose hätte nicht sagen können, welches der beiden Ziele schlimmer war. Die jüngeren Einwohner, für die Sunnyside einfach nur ein Stadtteil war, in dem man halt wohnte, kannten sie gar nicht mehr.
    In ihrer Erschöpfung suchte Rose kein Gespräch mehr, verlangte nicht mehr, jedem neuen Gesicht vorgestellt zu werden – ein kurzer Fehltritt, der einen Landrutsch in die

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