Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Ränge der Verlierer der Geschichte beordert, denen sie sich heute zugehörig fühlte: dem Volk. Sie hatte für Miriam immer nur Spott übriggehabt, wenn die mit dem Wort Feminismus ankam, um Roses Leben auf den Begriff zu bringen. Dieser kleine Gewissensbiss kam jetzt zu jenem unfassbaren Verlust hinzu, der sie zwang, ihr eigenes Leben von Miriams Warte aus zu sehen, nun, wo es zu spät war für alles bis auf ein Gespräch mit dem Geist ihrer Tochter, über ein Telefon, das nicht klingelte.
Konfrontiert mit dem ultimativen Verlust, dem Tod des einzigen Kindes, würde wohl jede Jüdin Gott abschwören. Rose hatte diese Abkehr schon vor Jahrzehnten vollzogen.
Wem oder was konnte sie also noch abschwören?
Dem Materialismus.
—
In dieser Geistesverfassung bewegte Rose sich jetzt, der Bezirksstreife überdrüssig, hielt sie sich ohne den geringsten Trost aufrecht und betrat Kelcy’s Bar, um etwas anderes als Schutz vor der brennenden Sonne und eine eisgekühlte Coca-Cola mit einer Scheibe Zitrone zu suchen, obwohl sie auch das beides gut gebrauchen konnte. In dieser Verfassung also ließ der Voodoo der Sehnsucht sie erneut in Archie Bunkers Welt migrieren. Denn das Kelcy’s war Archie Bunkers Bar, die, wie dem Abspann der Serie zu entnehmen war, am Northern Boulevard lag. Warum sollte Rose dort nicht vorbeikommen?
Nach dem grellen Sonnenlicht gewöhnten sich die Augen nur langsam an die Kneipe, und er erwuchs aus einem Schattenriss, der auch ein kleiner Zirkusbär mit einer Kreissäge auf dem Kopf hätte sein können: Bunker saß allein da und gönnte sich einen Nachmittagswhiskey.
Rose schob sich zwischen Jukebox und Flipper hindurch an die Bar. Unter Aufbietung all ihres Dünkels nahm sie eine Papierserviette von einem Stapel und tupfte sich die Stirn. Die fünf oder sechs in der Bar verstreuten Männer – zwei an der Tresenecke in grübelnden Zwiegesprächen mit ihren Drinks, die anderen an den runden, auf dem Sägemehlboden gestrandeten Tischchen – senkten die Blicke und unterdrückten ihre Neugier. Bunker grüßte Rose mit einem sinnfreien Grunzen. Der Barkeeper wandte ihr mit angenehm wortloser Gespanntheit das Gesicht zu.
»Eine Coca-Cola mit einer Scheibe Zitrone bitte.«
»Geht auch Pepsi?«
»Geht auch.«
»Wollen Sie den Anlass nicht mit einem richtigen Drink feiern?«, warf Bunker ein.
»Wie bitte?«, fragte Rose. War sie in seliger Unwissenheit um einen Feiertag in den Nachmittag hinausgetreten?
»Ich habe gerade eine Wette mit meinem guten Freund Mr. Van Ranseleer hier gewonnen – er hat gesagt, an einem Dienstagnachmittag kommt hier nie im Leben mehr ’ne Frau reingeschneit. Da Siedie Wette für mich gewonnen haben, ist Mr. Van R. uns eine Runde schuldig, verstehen Sie?« Rose merkte, dass das einem der Männer am Tresenende galt, der auch in der Bar eine Sonnenbrille trug. »Genau, ganz recht, er ist blind. Wir wollten warten, bis Sie was sagen, damit er merkt, dass er verloren hat. Aber keine Sorge, der hat mehr Knete als wir alle zusammen. Ihr, wie nennt man den, Ihr Shirley Temple da, ist also bezahlt. Aber da Sie uns nun schon mal mit Ihrer Anwesenheit beehren, würd ich vorschlagen, dass kein Gesetz ein kühles Bier verbietet, um die Feieierstimmung zu heben.«
»Vielen Dank, aber ich bin keine Biertrinkerin.«
»Entschuldigen Sie die Frage – sind Sie Jüdin?«
»Ja, bin ich.«
»Na, dann müssen Sie zugeben, dass Ihre Leute in der Bar selten die Spendierhosen anhaben. Nichts für ungut.«
Rose überlegte kurz. »Gilt dieser Eindruck … mehr dem Trinken oder dem Geldausgeben?«
Bunker hob die Hand, als wollte er einen Zug anhalten. »Hey, die Schotten sind viel schlimmer.«
»Ich heiße Rose.«
»Archie. Keine Bange, Sie sind mehr als willkommen, Pepsi-Cola zu trinken.«
»Ich kenne Sie, Archie. Ich meine, ich hab Sie schon mal gesehen.«
»Och nee, ne? Hätt ich Sie erkennen müssen?«
»Sie würden sich nicht erinnern, aber ich kann mich erinnern. Das war bei Jerome – Stretch Cunninghams Beerdigung. Ich habe Ihre Rede gehört.«
Verschiedene Mienen huschten über Archies Gesicht, als machte er Inventur bei den für diese Situation angemessenen Gefühlen, ohne aber auch nur das geringste zu verstehen. Rose verfolgte das und erinnerte sich, wie verzückt sie an dem Tag im Bestattungsinstitut gewesen war. »Vielleicht hatt ich deswegen gleich das Gefühl, dass Sie Jüdin sind«, sagte Archie nicht unsanft.
»Kann sein.«
»Na, die Laderampe war ohne
Weitere Kostenlose Bücher