Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Verblühen in Beeten und an Wegen, sie sah die Zeit selbst. Nach und nach hatten die neuen Eigentümer die Allmende balkanisiert. Ein Abschnitt des Planeten, der einst allen gehört hatte, war stinknormales Eigentum geworden, Landstückchen mit eingezäuntem Unkraut, auf denen gerade mal gusseiserne Grills oder Plastikliegestühle Platz hatten, feiges Pochen auf eine Sicht der Menschenrechte à la Hatfield gegen McCoy. Selbst auf die Gehwege wurde Anspruch erhoben. Man konnte nicht von der Skillman zur 39th durch die Gardens gehen, ohne einen Squaredance an Umwegen an den neuen Zäunen vorbei zu absolvieren.
Wenn das Feuer ihrer Blicke die Menschen zu Gespenstern zerschmolz, bestand die Schwierigkeit darin, dass Rose danach auf ihre Hände schaute, die die Tasse mit dem lauwarmen Tee umschlossen, und auch diese waren unsichtbar geworden. Niemand mehr übrig, um anständig zu trauern.
Also musste man jeden Tag als Gelegenheit wahrnehmen, die Todesanzeigen zu studieren, Lippenstift aufzutragen, einen schwarzen Hosenanzug anzuziehen und die Leiche im Sarg für all das einstehen zu lassen – Körper, Geist, Welt, Glaube –, was täglich in Grund und Boden versank.
Dann stand eines Tages der Name Jerome Cunningham in der Zeitung, vormals Jerome Kuhnheimer, von Verwandten und Freunden »Stretch« genannt, sie bereitete sich auf die Beerdigung draußen in Corona vor, und bei der Zeremonie stellte sie fest, dass die Leben innerhalb und außerhalb ihrer Wohnung, genauer gesagt diesseits und jenseits der Mattscheibe des Fernsehers, ineinander übergingen.
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Die Zeremonie fand in einer typischen Saalkapelle mit oberflächlichen jüdischen Verzierungen statt, hier ein Tallis, dort eine Menora. Um nicht erkannt zu werden und niemanden erkennen zu müssen, kam Rose immer spät und setzte sich in die letzte Reihe. Die Bestattung hatte etwas Seltsames, was schon damit anfing, dass sich die Kollegen von Stretch Cunninghams Arbeitgeber Pendergast Tool & Die, wo das arme Schwein sein ganzes Leben lang an der Laderampe malocht hatte, nicht recht unter die jüdischen Familienangehörigen mischten. Der Tote hatte den Mumm oder die Dummheit besessen, Kuhnheimer zum WASPischen Cunningham zu anglisieren – der einzige Akt der Kühnheit in einem Leben, das sich ansonsten, wenn man den am Kopfende des Sargs stehenden Totenrednern Glauben schenken durfte, nur durch Stretchs affenartige Albernheiten ausgezeichnet hatte. Ein hartnäckiger Widerwille, irgendetwas ernst zu nehmen: Damit hatte sich der Mann überall beliebt gemacht. Ein Scherzkeks war tot umgefallen.
Obwohl Archie einen Auftritt als Trauerredner hatte, kam er noch später als Rose. Er platzte herein, Edith drückte ihm eine Jarmulke auf den Kopf, und praktisch ohne ein Wort der Einleitung wurde er zum winzigen Altar der Kapelle gezogen. Der korpulente Mann hatte sich in einen schwarzen Anzug gezwängt, der seit der letzten Beerdigung vor etlichen Jahren und Kragenweiten wahrscheinlich eingemottet gewesen war. Kragen und Krawatte sahen festgezurrt aus, um jeder Rebellion von unten vorzubeugen; oben wurden die weißen Haare von der schlechtsitzenden Jarmulke gedeckelt, eine Begrenzung, damit das obere Ende nicht explodierte. Dazwischen bildete Archies Gesicht eine pastöse Fleischkarte seiner Seele. Seine Miene zeigte alle Zwischentöne von unfreiwilligem Pathos über stumpfe Benommenheit und bärenhaften Grimm bis hin zu verschlagener Belustigung, ohne je das Geschundene in Augen- und Mundwinkeln zu verleugnen.
»Ich habe elf, zwölf Jahre lang Seite an Seite mit Stretch gearbeitet, und ich, äh, ich kannte ihn gut. Aber offenbar weniger gut, als ichdachte …« Rose verstand zwar nicht, wie Archie Bunker plötzlich in ihr Leben geplatzt war, aber den Witz verstand sie sofort. Vor Betreten dieser Friedhofskapelle hatte Archie, der Antisemit, nicht gewusst, dass sein geliebter Freund Jude gewesen war. Archie fuhr fort: »Stretch war ein Pfundskerl, ach was, ein Zentnerkerl, lachte immer über alles, erzählte selber Witze und zwar ganz schön viele jüdische Witze …«
Rose liebte Archie nur um so mehr, als sie miterlebte, wie er sich hier leibhaftig vor all den Juden blamierte. Sie fühlte stellvertretenden Trotz um seiner so wunderbar unschuldigen Entschlossenheit willen, die den Mann in jeden Fettnapf stolpern ließ. Er vermisste seinen Freund Stretch, und der Tod verstörte ihn, und doch gelang es ihm, da zu stehen und sich um Kopf und Kragen zu reden, aber
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