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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Erneuerung oder Flucht hoffen. Aber mit dem Schmeicheln hatte sie es übertrieben. Oder etwas anderes war sauer geworden. Als sie in ein Kleid stieg, verzerrte sich Roses Gesicht wieder.
    »Wo willst du hin?« Roses Stimme erklomm die erste Sprosse der Hysterie. »Zu ihm ?«
    »Ach, Mutter. Ich ziehe mich nur an.«
    »Bin zufälligerweise ich es gewesen, die dir einen ganzen Schrank mit nichts als Tellerröcken und Partykleidern angeschafft hat? War ich so eine Idiotin? Vielleicht liegt die Schuld wirklich bei mir, vielleicht habe ich dich irgendwie aus deinem Zuhause vertrieben, so dass du jetzt einen Mann suchst, der dich flachlegen kann, weil ich fertig bin, untenrum trocken –«
    »Hör auf, Rose.« Miriam hütete sich, den Liebhaber ihrer Mutter, den Lieutenant, zu erwähnen. Wer wusste, was das für Verheerungen ausgelöst hätte.
    Aber wie kam sie eigentlich darauf, dass Verheerungen zu vermeiden waren?
    Roses Hände zerrten wieder am Saum ihres Morgenmantels, aber eine Wiederholungsvorstellung genügte nicht, hier war Eskalation gefragt. Rose schluchzte theatralisch und sank zu Boden, was Miriam absurderweise an einen Soulsänger erinnerte, Jackie Wilson, den sie im Mercury Ballroom gehört hatte, als Lorna Himmelfarb und sie sich in einer Mutprobe nach Harlem gewagt hatten, wo ihre weißen Gesichter Leuchtfeuer des Risikos und des Entzückens in einem Meeraus Schwarz bildeten. Sie waren toleriert, vielleicht geduldet oder sogar beschützt worden, aber ohne eine Negerin als Eskorte würde Miriam es nicht noch einmal darauf ankommen lassen. Und jetzt blockierte Rose kunstvoll die Tür; ihre Theatralik hatte ein Körnchen Pragmatismus. Roses Schluchzen erinnerte Miriam dermaßen an den Sänger, dass sie prusten musste.
    »Wie kannst du bloß. Ich könnte sterben, und das würde dich nicht davon abhalten zu machen, was du willst. Du würdest garantiert über eine Sterbende wegsteigen und dich nach Greenwich Village aufmachen oder zu einem Mann wie dem eben. Du lässt dich nicht mal dazu herab, mir seinen Namen zu verraten. Würdest über meine Leiche steigen und dich in Gefilde begeben, wo es keine Spießer gibt. Aber ich hätte mir nicht träumen lassen, dass du mich dabei auch noch auslachen würdest.«
    »Du stirbst nicht, Rose.«
    »Innerlich bin ich tot.«
    Dann weiß man, dass man noch lebt, wollte Miriam ihr sagen. Innerlich zu sterben, war für Rose eine Lebensweise. In ihrer Mutter tobte ein Vulkan des Todes. Rose hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, ihn anzufachen, immer hatte das innere Chaos gebrodelt, immer war Rauch aufgestiegen. In Roses Lava der Enttäuschung waren die Ideale des amerikanischen Kommunismus eine Ewigkeit lang einen langsamen Tod gestorben; Rose würde nie sterben, eben weil sie ewig leben musste, ein Fleisch gewordenes Mahnmal, das des Scheiterns des Sozialismus in Form einer intimen Wunde gedachte. Der Widerwille ihrer Schwestern, sich durch ihre Ehen, durch ihre Biographien gegen das Drehbuch des gehorsamen jüdischen Lebens aufzulehnen, das Miriams Großeltern aus dem Schtetl geborgen hatten, das weder Polen noch Russland war, sondern zu einem unheiligen Nichtjudenland dazwischen gehörte; auch das hatte zu dem Zorn beigetragen, der ewiglich in diesem radioaktiven Behälter schwelte, der undetonierten Bombe namens Rose Zimmer. Gott selbst war zum Sterben in sie gekommen: Roses Unglaube, ihre Weltlichkeit, war keine Freiheit vomAberglauben, sondern die tragische Last ihrer Intelligenz. Gott existierte nur in dem mickrigen Ausmaß, sie durch seine Nichtexistenz enttäuschen zu können, und so mickrig er war, so immens, so geradezu gottgleich war ihre Wut auf ihn. Und wenn man das zu bestreiten wagte, war der letzte Beweis der Gottlosigkeit in diesem irdischen Greueltal der Holocaust. Jeder einzelne der sechs Millionen Ermordeten war eine persönliche Verletzung, und auch sie wurde in dem Vulkan gehegt.
    Rose kroch auf Händen und Knien in die Küche. Miriam, jetzt im Kleid, aber barfuß, fand eine passende Antwort, ein unlogisches Gegenmittel für das, was sie vor sich sah: Sie griff nach einer Zeitschrift, die auf dem Flurtisch neben einem Schälchen mit Schlüsseln lag. Life, Mamie Eisenhower mit einem gelben Blumenhütchen. Miriam tappte hinter Rose her und blätterte ostentativ in den Hochglanzseiten, während ihre Mutter vor den Herd rutschte und den Arm hob. Miriams Aufgabe beschränkte sich darauf, Rose mitzuerleben; das war ihr in ihren siebzehn Lebensjahren

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