Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
innersten Heucheleien auswendig gelernt hatte. Du wolltest eine Zeugin?
»Rückzugsgefechte?«, schrie Rose. Wie ein Tier, das aus einem Bau herausschießt, in dem es auf einen feindlich gesonnenen Bewohner gestoßen ist, kam Rose aus dem Herd hervor. Noch auf den Knien riss sie Miriam zu Boden. Einen Augenblick lang fühlte sich diese in die fahrige Umarmung ihrer Mutter gezogen, in Arme aus Stahl und einen Busen von süßlicher Tiefe, an ein verzerrtes Gesicht, das mit seinen ätzenden Tränen das ihre zerfraß. Dann wurde ihr Körper herumgestoßen, und als wäre sie wie eh und je ein Kind, dessen Arme man durch Ärmel schieben musste, wobei sie hier und da Druckstellen bekamen,wurde sie erschreckend schlaff, als sie merkte, was Rose vorhatte. Alle Stärke war Miriam abhanden gekommen und in die ungeheuren Gelenke und Schultern ihrer Mutter übergegangen, ihren Ringergriff. Rose stieß Miriams Kopf in den Herd. Miriam ließ es willig geschehen. Vielleicht spielte es eh keine Rolle mehr, die ganze Küche war ja schon voll Gas. Miriam wollte Rose auch jetzt keinen Vorsatz unterstellen, obwohl diese die Zimmer der Wohnung im Grunde abgedichtet hatte. Ein Geistesblitz folgte dem nächsten. So erwarb man das Recht, einen Mord zu begehen: Man musste zunächst die Bereitschaft zeigen, sich selbst zu ermorden.
Vielleicht wollte Rose Miriam prüfen. Vielleicht prüfte auch Miriam sie, indem sie sich nicht wehrte: Als sich Roses Schraubstockgriff sofort wieder lockerte, redete sie sich zumindest ein, sie hätte sich gewehrt, wäre nicht von suizidaler Hilflosigkeit gewesen. Miriam sank ihrer Mutter in den Schoß, als sie beide nach hinten kippten und Miriams Kopf beim Herauskommen noch gegen die Oberseite des Herds prallte. »Du würdest das machen, du würdest sterben, bloß um mich loszuwerden«, stöhnte Rose. Sie arbeitete sich unter ihrer Tochter hervor, löste das Mutter-liest-Kind-Märchen-vor-Tableau vor dem Gas ausströmenden Herd und krümmte sich mürrisch und erschauernd auf dem Boden zusammen. Eine Brust fand den Riss im Nachthemd und quoll wie Pfannkuchenteig auf die Küchenfliesen.
Miriam drehte das Gas ab. Dann stand sie auf, strich das verrutschte Kleid glatt, trat ans Küchenfenster, zog die Jalousie hoch, öffnete einen Flügel und ließ Frischluft herein. Sie schritt über ihre Mutter hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen, machte eine Runde durch die Wohnung und riss alle Fenster auf, damit die kühle Morgenluft das Gift hinaussog. Es würde eine Weile dauern. Als Miriam auf ihrem Rundgang wieder zur Küchentür kam, hatte sich Rose in ihr Zimmer zurückgezogen und sarkophagartig auf ihr hohes schmales Bett gelegt wie eine Gestalt in einer Marmorkrypta, Grant oder Lenin.
»Du bringst mich um«, intonierte Rose, als ihr feines Radar Miriam entdeckte, die auf Zehenspitzen an ihre Tür geschlichen war. RosesKopf rührte sich nicht von der Stelle, die schwarzen Locken und grauen Schläfen steingeschmiedete Strudel.
»Eine Familientradition.« Hatte Rose den Spott verdient? Miriam brauchte ihn, um nicht durchzudrehen.
»Ich kann nicht mit dir in einem Haus leben.«
»Erst bringe ich dich um, weil ich gehe, und jetzt wirfst du mich raus?«
»Geh zu ihm.«
Rose war weniger eine Mutter als ein eingebildeter und eifersüchtiger Liebhaber bei Shakespeare, ein Herzog, dessen Phantasie seinen Rivalen Beständigkeit gibt. Miriam sah sich daraufhin in Männerkleidern wie Rosalind, um sich in das Allerheiligste der Wohnheime der Columbia einzuschmuggeln. Für einen nachtlangen Schlaf hätte sie jetzt alles getan. Komischerweise war es völlig unmöglich, Rose erklären zu wollen, warum ihr verheerender Auftritt die dürftige Episode mit dem Studenten hatte scheitern lassen. Erneut fragte sich Miriam, ob sie Porter je wiedersehen würde. Passend zu ihrer shakespeareschen Phantasie schien er die Gestalt aus einem Traum zu sein. Vielleicht hatte das Gas schon gewirkt, sich angeschlichen und ihr das Gehirn vernebelt, sie hätte ihren Kopf also ruhig auf dem Herdrost ruhen lassen und sterben können. Shakespeare war ihr durch den Kopf gegangen, weil Miriam wie alle New Yorker Schulkinder seine Theaterstücke auswendig gelernt hatte, lange bevor sie auch nur die geringste Chance hatte, sie auch zu verstehen, und so war sie dazu verurteilt, den Rest ihres Lebens erfahren zu müssen, dass der Dramatiker von seinem Hochsitz in der Geschichte aus sämtliche Qualen und Sinnlosigkeiten der menschlichen Existenz
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