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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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längst auf den Punkt gebracht hatte. Rose in ihrem Bildungsfuror wäre stolz gewesen, wenn sie das gewusst hätte. Miriam versagten die Beine, und sie sank an Roses Tür zusammen. Rose schien auf ihrem Bett kilometerweit über ihr.
    »Es gibt ihn nicht«, flüsterte Miriam.
    »Wenn du nicht an die Uni zurückgehst, pack deine Sachen und such dir sonstwo eine Bleibe.«
    »Nicht in Queens.« Zwei nebeneinander beigesetzte Mumien feilschten in ihren unterirdischen Kammern um die Angelegenheiten der Oberwelt.
    »Sondern?«
    »An die New School.«
    »Hast du nach Mr. und Mrs. Abramovitz und ihrem Sohn, dem Harvard gerade gut genug ist, die Nase noch nicht voll von Trotzki? Musst du dich auch noch an dieser Brutstätte des Schlendrians aalen? Hast du denn gar nichts beherzigt, was ich je gesagt habe?«
    »Trotzki ist mir völlig egal, Mutter. Ich will Volksmusik studieren.«
    Das entlockte der aufgebahrten Statue immerhin ein Kreischen: » Volksmusik? «
    »Du hast gesagt, geh an die Uni zurück.«
    »Das soll Uni sein?« Ein in Roseologie weniger bewanderter Zeitgenosse hätte es vielleicht nicht herausgehört, aber der tragische Schluchzer zwischen der ersten und der zweiten Note dieses Songs signalisierte das Sichfügen ins Unvermeidliche. (Wieder so ein Jackie-Wilson-Schluchzer.) Dem Teil von Miriam, der Schmetterlinge mit dem Schwert jagte, gelang ein Lächeln.
    Und mehr als das: Der Schmetterling flatterte mit einem Flügel und probierte den Himmel aus. »Aber nicht in diesem Semester, Rose. Dafür ist es zu spät. Ich möchte, dass du mich nach Deutschland schickst.«
    »Was soll das denn?« Im Ton schwang noch Verrat, Verrat mit, aber nicht mehr mit der bisherigen Verve.
    »Wenn du möchtest, dass ich studiere, dann verrat mir vorher, wo er lebt, und besorg mir ein Flugticket.«
    »Das ist zu viel«, setzte Rose an. Unterbrach sich aber. Der schwarze Herd war nicht weit weg, und immer noch durchzog Gasgeruch die Wohnung. Miriam merkte, dass sie Rose, ohne es vorher geplant zu haben – zwei Seelen können einen solchen Einschnitt im Leben ohne Plan erreichen! –, den vollen Preis dafür abverlangte, diese Episode nie wieder zur Sprache zu bringen.
    »Nach Deutschland, um ihn zu besuchen, dann fang ich im Frühjahr an zu studieren.«
    »Zu viel.« Rose flüsterte jetzt.
    »Nein, es ist höchste Zeit, dass ich ihn mir anschaue. Und wenn du willst, kann ich dir sogar erzählen, was ich vorfinde.«
    »Du hättest dir doch alles bei deiner Omi holen können, bei Alma. Du hättest deine Großmutter jederzeit nach der Adresse des Mistkerls fragen können.«
    »Kann sein. Ich will sie aber von dir haben.«
    »Lass mich in Ruhe.« Die Frau oben auf dem Bett erstarrte wieder zur Steinskulptur auf einem Grabmal.
    Und so legte sich Miriam zuletzt auf ihre eigene Matratze, in dem sauberen Kleid, das sie bei ihrer kurzen Kopf-voran-Expedition in den Herd getragen hatte, die Bettdecke, unter der sie einen Augenblick lang Porters unbeschnittenen, spritzenden Schwanz umfasst hatte, noch immer in die Ecke geschoben, und sah mit erschöpften, aber weit aufgerissenen Augen an die Zimmerdecke und atmete nur schwach. Die beiden in ihren Zimmern wie eh und je. Das unablässige Arrangement von Mutter und Tochter, vor Wut aufeinander verknäult, doch ein gemeinsames Bollwerk in der Wohnung gegen alles und jeden da draußen. Tempel und Gruft der Kindheit, Waffenkammer von Roses Trotz. Bevor sie vom Schlaf übermannt wurde, spürte Miriam die Druckstellen von Roses Fingerspitzen an den weichen Oberarmen. Sie konnte sie fast zählen, acht Finger und zwei Daumen pochten. In den nächsten Tagen würden sie violett, blau und bananengelb erblühen, verblassen und wieder verschwinden.
    Es war eine Fangfrage gewesen, ein selbst Äsops Kräfte übersteigendes Paradox. Wie konnte man die Identität der grauen Gans erfahren, indem man die graue Gans fragte ? Denn schließlich und endlich war eines doch eindeutig: Die graue Gans – ungenießbar, stahlhart, untot, jede in ihre Richtung geschwungene Klinge schon vor dem Wagnis eines Angriffs schartig machend – war niemand anders als Rose Zimmer.

»Soll ich dir mal sagen, was ich wirklich glaube?« Der Sprecher war Cicero Lookins. Oder eher sein Kopf. Einer von zwei Köpfen, die in den Wellentälern und auf den Kämmen auf und ab tanzten, während das Meer in der schweren, stillen Luft das Licht spiegelte wie ein Kronleuchter mit Sonnenstich. Die Atmosphäre war ein Mittagsleuchten, eine

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