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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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anscheinend schon jahrhundertelang beschieden gewesen. Miterleben, bestätigen, anerkennen. Also: in die Küche. Lana Turner sah im Kulturteil der Zeitschrift genauso aus wie Mamie auf dem Titelbild; wenn man blinzelte, waren sie dieselbe Frau. Rose drehte das Gas an, riss die Tür vom Herd auf wie ein schwarzes Maul, stützte sich auf seine vorgeschobene Unterlippe und schob den Kopf hinein.
    »Ich will nicht leben und zusehen müssen, wie du mit einem Baby sitzengelassen wirst, wie ich von dem Kotzbrocken, der sich dein Vater schimpfte, sitzengelassen worden bin. Mein Leben war nichts als ein ununterbrochenes Herzensleid, seit er mich zum ersten Mal berührte, und jetzt verlässt du mich, um die Sache zu Ende zu bringen. Aber ich werde sie für dich zu Ende bringen. Das macht nichts, ich habe seit der Zerstörung von allem, was mir mal etwas bedeutet hat, schon viel zu viele Jahre gelebt. Ich ertrage es nicht, die Prüfungen deiner Idiotie und deines Leids mitzuerleben, wie ich meine erleben musste. Als hätte ich dir gar nichts beigebracht.«
    »Das ergibt keinen Sinn, Rose, du rührst da zu vieles zusammen.« Miriam klemmte die Zeitschrift unter den Arm, weigerte sich aber einzugreifen, nur einen Schritt in Richtung Rose zu machen. »Mein Vater ist nicht verantwortlich für dein ganzes Leben, dafür war er gar nicht lange genug da. Es war beispielsweise nicht mein Vater, der den Sowjets die Schmach zugefügt hat, das war Chruschtschow.« Konnte Miriams Schärfe dafür sorgen, dass Rose ihre Schmierenkomödie peinlich wurde? Rose ruderte mit den Armen, als wollte sie noch tiefer in den Herd hineinkriechen, ein gestrandeter Wal. Hätte sie ihren Hintern von Miriams Warte sehen können, wäre sie sofort aufgestanden.
    »Ich bin schon allein, also lass mich sterben, wie ich schon hätte sterben sollen, als dieser Dieb mein Leben stahl und mich mit einem Baby sitzen ließ. Ich hätte das Baby in die Arme nehmen und von einer Brücke springen sollen.«
    »Das Baby bin ich, Rose.«
    »Ohne Vater ist ein Kind schlimmer dran als tot. Wir sind beide ausrangiert worden.« Roses Argumente kamen absurderweise aus dem Herd. Doch die Küche füllte sich mit dem süßlichen, furzähnlichen Geruch, der, wie Miriam eingeschärft worden war, eine lebensgefährliche Angelegenheit war. Ruf das Gasunternehmen an! Reiß die Türen auf, lauf raus, sag einem Nachbarn Bescheid! Hinter den Mauern versteckten sich in beiden Richtungen Familien, die sie kannten, und hörten vielleicht Roses Stöhnen und Kreischen, während sie noch beim Morgenkaffee saßen und die Zeitung lasen. Rose war mit jedem einzelnen von ihnen zerstritten.
    »Das glaubst aber auch nur du. Was sollen die Lügen, Rose? Nach all der Zeit. Wenn du gewollt hättest, dass ich einen Vater habe, hättest du mir sagen können, wo er ist. Ich durfte ihm nicht mal einen Brief schreiben.«
    »Er hat dich weggeworfen, ohne sich noch einmal umzusehen. Glaubst du, dieser Mann hätte gelernt, ein Kind zu lieben, das seiner Puppe kaum die Haare kämmen konnte, als er verschwand? Du konntest ihn nicht als Publikum zufrieden stellen, wenn er mal wieder seinegroßen Reden schwang, du konntest ihm keinen Drink ausgeben, du konntest ihn genausowenig in seiner Eitelkeit bestätigen wie ich. Was willst du einem solchen Mann denn in einem Brief schreiben?«
    »Ein Mann, an allem, was dir zugestoßen ist, war ein Mann schuld. Für eine Revolutionärin ist das ein ganz schön bodenständiges Herzensleid, Rose.«
    »Bodenständig!« Das war zugegebenermaßen ein eigentümliches Wort für eine Rose Zimmer, die immer auf dem Boden der Tatsachen blieb, wenn sie auf Bezirksstreife ging und im Rahmen ihrer Bürgerpatrouille die vollendete, aufgebrachte Flaneurin gab. Rose war der Papst der Bodenhaftung und verbrühte als wandelnde Inquisition ganz Sunnyside. Der Gasgestank breitete sich weiter in der Küche aus und erzeugte einen Kopfschmerz, der einen von allen künftigen Kopfschmerzen erlösen wollte.
    »Das sind doch Rückzugsgefechte , Mutter. Sollten Männer und Frauen gemäß deinen revolutionären Blaupausen für ihre Leben nicht gleichermaßen verantwortlich sein? Oder landen diese Blaupausen jetzt auch im Herd?«
    Jedes Wort, das Miriam Rose entgegenschleuderte, und auch das erlesene Drehmoment, mit dem es geschleudert wurde, stammte direkt von Rose. Miriam gefiel die Vorstellung, dass Rose das Gefühl haben musste, einem abtrünnigen Selbst gegenüberzustehen, einem Dämon, der ihre

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