Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Brüdern Rye und Peter Harmonien zu trällern.
Peter, der Älteste, spielte den liebenswerten Rüpel ihrer Nummer – den Säufer und Schwadroneur. Während er auf der Bühne ein Guinness nach dem anderen leerte, brabbelte er keltischen Schmarren, den nicht mal seine kleinen Brüder entschlüsseln konnten. Rye gab den Scherzkeks und Schwerenöter, einen irischen Dean Martin. Also blieb für Tommy nur die Rolle des »Süßen« oder – nachdem er seine rosigen Wangen hastig mit Koteletten bedeckt hatte und sich auf der Bühne durch seine Überzeugungen unterschied – des »Ernsten«. Im Rückblick hatte er den Eindruck, dass er seit der Entlassung aus dem britischen Militär nur darauf gewartet hatte, dass die Welt einen klärenden Bedarf anmahnte und seinen vom Pech verfolgten Hochstapeleieneine äußere Form gab. Oder aber ihm vorwarf, sich ohne den richtigen Papierkram ins Erwachsenendasein aufgemacht zu haben. Nun war der Bedarf augenfällig geworden: Seine Aufgabe war es, einen gefälschten Tommy Gogan darzustellen. In dieser Verkleidung war er keiner Autorität außer der seines eigenen Herzens mehr Rechenschaft schuldig.
Trotzdem hätte sie jeder irische Bauer, den es in seinem Exil in einen Nachtclub in Greenwich Village verschlagen hätte, auf der Stelle als Protestanten aus Ulster durchschaut.
Anderthalb Jahre war Tommy jetzt dabei, schlief auf einer freien Matratze in Peters Wohnung in der Bowery und verstärkte abends die Harmonien von »Old Maid in the Garret« und »The Humors of Whiskey«. Wenn es nachmittags nicht zu kalt war, legte er Zivil an, Hose und Strickjacke, schritt über die Obdachlosen der Bowery hinweg und setzte sich mit Taschenbuch und Zigaretten auf den Washington Square. Dort tat er so, als läse er, während er den Probeläufen der Selbsterfindung lauschte, die rund um die Uhr auf der Freiluftbühne um ihn herum aufgeführt wurden. Die farbenprächtigen Studenten, die Teenager, die sich als Künstler verkleideten und ihren Weltschmerz theatralisierten, wie es ihm im Traum nicht eingefallen wäre. Die offen Homosexuellen und – was ihn dauerhafter erstaunte – Dykes, Lesben, die sich als Männer ausgaben, um ihr geheimes Selbst entschleiern zu können, und andere, die so taten als ob. Tommy freundete sich für einen Tag oder eine Stunde mit Ausreißern an, mit Dichtern, die schon vormittags betrunken waren, mit charismatischen Negern, die sich sein Taschengeld liehen, ihn mit schönen Worten und Versprechungen überschütteten und nie zurückkehrten. In diesem Park musste man nur ein Buch aufschlagen, und schon bekam man zu hören, warum es nichts tauge und man lieber ein anderes lesen solle. Als ein verbitterter Maler ihn in eine Kneipe im ersten Stock mitnahm und ihm erklärte, dort hätten die berühmten Expressionisten immer gesessen und gesoffen, hätte Tommy am liebsten erwidert, dass doch die ganze Stadt, soweit das Auge reiche, allein aus Expressionisten bestehe.
Und auf mich wirkt ihr alle berühmt.
An den Tagen, an denen er einsam die verrückte Großstadt durchstreifte, begriff er, dass ihre Genialität in ihrer Gleichgültigkeit bestand, dass sie die süße Gabe der Anonymität jenen Horden verlieh, die von ihrem Identitätsüberschuss gefoltert wurden, einem Überschuss an Wunden und Hinterlassenschaften, und er hatte das Gefühl, jemand zu sein, bei dem diese Gabe absolute Verschwendung gewesen wäre. Es war sinnlos, einem Mann Anonymität zu verleihen, der sie schon erlangt hatte, einem Mann, der nichts anderes zustande gebracht hatte. Den Unschuldigen muss man keine Absolution erteilen und den Unsichtbaren keine Verkleidung geben.
Das unablässige Touren der Brüderband im Verbund mit Tommys Naivität in Bezug auf alles, was jenseits der Grenzen der Folkszene lag, beschränkte ihn auf einige wenige Straßenzüge. Was ihn nicht störte. Innerhalb dieses Gebiets mit seinen Cafés und Kneipen, seinen Kellerclubs und Lokalen im Hochparterre gab es eine Welt bodenlosen Dünkels, ein Tollhaus des Betrugs. Wenn die Brüder ihr Irentum fälschten, gab es unterhalb der Fälschung doch ein gewisses Maß an Irentum. Musiker überzeugten einander vom Wert »traditioneller« Folksongs, die sie bei Mitch Miller abgeschrieben, fünf Minuten zuvor einstudiert oder an Ort und Stelle erfunden hatten. Bühnen wurden von Zynikern gebucht, die die Musik nicht ausstehen konnten, dann jedoch eine Kehrtwende machten und die abgebranntesten Pechvögel unter den Sängern in ihren
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