Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
war, sich abermals ein neues Outfit und ein dazu passendes Verhalten zu fälschen.
Später dachte Tommy, das ließe sich alles auf die Eitelkeit eines Schufts zurückführen, der das Sullivan-Mädchen in die Wüste geschickt hatte, und wünschte sich oder hätte sich gern gewünscht, sie anrufen zu können, ja er blätterte sogar eine Penguin-Ausgabe von William Blake durch, weil er todsicher war, dort ihre Nummer aufgeschrieben zu haben. Ein Mädchen aus Ohio, und dem Vernehmen nach war sie auch dorthin zurückgegangen.
»Sideburns Raining to the Floor«
»I Held the Door, Phil Ochs Walked In«
»Tried to Visit Woody on His Deathbed Too (But Ended Up in the Bronx)«
Doch das Aufpolieren von Privatmythen, das Aufsuchen von Exfreundinnen, das Bereuen früherer Entscheidungen, das waren alles Sackgassen, Schwelgereien eines Songwriters mit Schreibblockade. In seinem Zimmer im Chelsea Hotel zündete sich Tommy die nächste Zigarette an, seine letzte. Danach musste er in die Nacht hinausgehen und sich ein neues Päckchen besorgen – denn inzwischen war es draußen längst dunkel geworden. Er wusste, ehrlich gesagt, dass Lora Sullivan ihn gelangweilt hatte. Man konnte keinen Nostalgiesong über ein Mädchen schreiben, das einen gelangweilt hatte. Auch jenes Leben war in Wahrheit nur eine Fälschung gewesen, der Probelauf für einen Identitätsentwurf mit einer gewissen Haltbarkeit. Der halbherzige und nur selten mal prachtvolle Zeitraum, als er noch Brokat trug, noch auf Peters Klappbett schlief, zur Stimme eines Protestsängers gefunden hatte, aber ein kleiner Bruder geblieben war, der nicht nur voll und ganz und ohne ein Wort des Protests unter der Fuchtel nicht nur von Peter und Rye, sondern bald darauf auch von Phil und Bobby gestanden hatte – das alles war ein Leben unausgegorener Posen gewesen, echt gefälschte Echtheiten und leidenschaftlich gefälschte Leidenschaften, und im Nachhinein war alles nur ein Präludium des Tages gewesen, an dem er in den Bannstrahl des Katalysators Miriam Zimmer geriet.An einem berühmt gewordenen Wintermorgen im Februar 1960 zog er in einem berühmt gewordenen jaulenden Schneesturm zusammen mit einem berühmten jungen weißen Bluessänger nach Corona Park, um einem berühmten alten schwarzen Bluessänger seine Reverenz zu erweisen, der außerdem ein ordinierter Geistlicher war, und deshalb, so ihre Legende für den Rest ihres Lebens, hätten Miriam Zimmer und er den Reverend bitten sollen, sie auf der Stelle zu trauen. Der belebende Ruhm des Ganzen – von Dave Van Ronk und dem Reverend Gary Davis, aber auch dem Ruhm des Schneesturms, dessen Fotos in den nächsten Tagen die Zeitungen beherrschten, der Schneepflüge stoppte, U-Bahn-Eingänge verstopfte und Skiläufer in den Central Park trieb – wurde dem verrückten Traum jenes Tages und der folgenden Tage zugeordnet, dem privaten Ruhm zweier Liebender, die einander entdecken. Er sollte sich sein Leben lang fragen und nie eine anständige Antwort erhalten, warum um alles in der Welt er in Van Ronks geliehenem Nash Rambler dem Sturm getrotzt hatte, um dann Gary Davis zu Füßen zu sitzen und eine Anleitung im Fingerpicking des Riffs von »Candy Man« zu erhalten, er, der im Fingerpicking so gut war (wie immer gewitzelt wurde), als wäre seine rechte Hand ein Fuß, an den man noch einen Entenfuß genäht hatte. Warum er, wie Miriam das später nennen sollte, seinen »klassischen Fall von Bezirksphobie« überwunden und die Expedition nach Queens unternommen hatte. Tommy nahm an, dass Peter und er wieder mal, wie so oft, Krach gehabt hatten und er einen Vorwand gesucht hatte, die Wohnung in der Bowery zu verlassen, und dann war er eben Van Ronk über den Weg gelaufen. Keine Ahnung, ob Tommys Name Van Ronk vorher überhaupt ein Begriff gewesen war, aber in seiner Geselligkeit hatte der ältere Folksänger ihn einfach mitgenommen. Im Rückblick lag etwas Unterwürfiges in Tommys Lehrzeit – eine hündische Bereitschaft, Bob Gibson oder Fred Neil beim Gemüseeinkauf oder zur Toilette zu begleiten, was eigentlich nicht so richtig attraktiv war. Der Besuch des Reverends hatte allerdings etwas Romantisches. Falls er noch Songs in sich hatte, sollten sie den Erinnerungen an solche Tage entspringen.
Sie hatte mit der Frau des Reverends am Tisch gesessen. Das Haus war winzig, in einer Vorstadt winziger Häuser an geneigten Straßen, und als sie es mit Hilfe von Mülltonnendeckeln endlich geschafft hatten, sich einen Parkplatz
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