Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Gesicht. Er wollte Miriam heiraten. Er sah sich selbst nicht gerade bescheiden als Kämpfer für Frieden und Gleichheit. Ja, er stammte aus den Reihen der Kitschbrüder und war mit ihnen in der Steve Allen Show aufgetreten, aber seine eigene Kunst war weniger traditioneller Schmus, sondern mehr auf internationale Themen und amerikanische Stile ausgerichtet, besonders den BLUES, den er immer in Großbuchstaben sprach. Wo hatte Rose das schon mal gehört?
Die Latzhosen und die Helden aus der Dust Bowl, der Blues der Fershlugginer: Die Kinder aus der MacDougal Street polierten eifrig die alten Phantasien auf. Die Wurzelseppkunst, die Aristokratie der Armen vom Lande, die Erlösung, die an einem ländlichen Horizont gleich hinter den Stadtgrenzen lauerte. Die Volksfront da capo!
Am ganzen ersten Abend erlaubte Rose sich nur ein einziges Aufflackern ihres Sarkasmus. Rose konnte es wirklich billigen, einem Tommy Gogan zu verfallen, einem fadenscheinigen Lincoln-Abklatsch; dieWahl war auch nicht törichter als der erste Mann, den sie geheiratet hatte. Rose hielt ausnahmsweise mal den Mund. Während von ihr erwartet wurde, den Jungen mit Fragen einzudecken, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen, schenkte sie nur Wein nach und verfolgte, wie Tommy Gogans kleine Eitelkeiten unter Miriams stetiger Vergötterung anwuchsen. Rose übte sich darin, das zu ehren, was da in ihrer erbärmlichen Wohnung aufgetaucht war, in der die Bibliotheksbände auf dem Regalbrett in der Reihenfolge sortiert waren, in der sie zurückgegeben werden mussten, und in der immer nur in dem Zimmer Licht brannte, in dem man sich gerade aufhielt, damit die Stromrechnung nicht zu hoch war. Die Wohnung einer alten Frau, wurde ihr klar. Die beiden hätten zusammen weglaufen können. Stattdessen hatten sie ihr ihre Aufwartung gemacht wie Rose einst Alma. Rose sollte dankbar dafür sein, dass es für Miriam noch eine Welt gab, in der sie mit solcher Unschuld verweilte, dass sie alle Fehler von Rose wiederholen konnte. In den wundersamen Händen der Jugend waren das noch keine Fehler. Die beiden liebten sich.
Roses Kummer ertrank augenblicklich im Meer der Zeit, in der Gleichförmigkeit, die die Jahre dem Dasein jedes Menschen auferlegten.
Sollten Roses Schwestern und Miriams Kusinen, diese tristen Töchter, diese aufstrebende Bourgeoisie, letztlich recht haben? Ein Ehemann als Kompass im Leben?
Die ganze Sache war dauerhaft verwunderlich.
Miriam und Tommy sprachen von Zielen und Protesten. Von Bürgerrechten und Martin Luther King, dessen Vorgruppe Tommy und seine Brüder bei einer Veranstaltung mit Studenten in Harvard gewesen waren. Ihre Politik schwebte in der Luft, unverankert in Theorie oder Partei – eine Wolkenpolitik. Miriam und Tommy wollten um jeden Preis die Welt verändern, und warum auch nicht? Wo sie selbst so leicht zu verändern waren? Zum Sieden gebracht wurden, weil es den anderen gab. Ihre Gliedmaßen kaum lange genug entflechten konnten, um zur Gabel zu greifen und die Eiernudeln mit Huhnzu essen, die Rose zubereitet hatte. Sie konnte sich denken, dass die Gitarre des Jungen in letzter Zeit Staub ansetzte – na ja, um so besser konnte er dann Songs aus der Dust Bowl singen. Sich selbst und was wirklich wichtig war, entdeckte man erst, wenn man es durch die Linse des Märchens betrachtet hatte, das Männern und Frauen gleichermaßen weismachte, da draußen im Wald der Welt gäbe es jemanden, den man lieben und heiraten könne. Sollte doch jeder jene Schwelle überschreiten und dem anderen im Licht der anderen Seite begegnen. Daher stellte Rose dem Werbenden nur eine einzige Frage in der Art und Weise, die man von ihr gewohnt war. Hier erlag sie kurz dem Sarkasmus – aber war es eigentlich Sarkasmus, wenn keiner der Anwesenden überhaupt wusste, worauf sie sich bezog? Nur sie allein verstand den Witz.
»Das ist ja alles schön und gut, junger Mann, aber darf ich Sie was fragen?«
»Ja, Ma’am.«
»Nennen Sie mich nicht Ma’am, Herrgott noch mal, oder Mrs. Zimmer. Ich bin Rose.«
»Gern, Rose.«
»Verraten Sie mir doch bitte, ob Sie sich vorstellen könnten, jemals auf einer Hühnerfarm in New Jersey zu leben.«
Wenn man alle Eventualitäten in Betracht zog, konnte man letzten Endes einfach nicht nein sagen, wenn Rye einen morgens im Wohnheim anrief, wo man Anrufe am Telefon im Korridor annehmen musste, wo alle anderen Arbeiter mithören konnten, ohne dass es sie groß gekratzt hätte, und einem sagte, kleiner Bruder, guter Bruder,
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