Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
Vom Netzwerk:
Kellern schlafen ließen und ihnen morgens Frühstück machten. Sänger von Hobo-Gesängen und Gewerkschaftshymnen entpuppten sich als Aristokraten, deren Familien schon seit Generationen an Unis der Ivy League studiert hatten. Ramblin’ Jack Elliott, der authentischste singende Cowboy, dem Tommy und seinesgleichen je begegnet waren, war ein Jude aus Brooklyn. Ein Schauspieler mit Oberklasseakzent, der auf Kaffeehausbühnen Shakespeares Monologe deklamierte, wurde festgenommen, weil er sturzbetrunken, in Kleid und Perücke, Pendler am Grand Central belästigt hatte; das Foto, das die Daily News davon brachte, wurde im Golden Spur sofort an die Wand über der Bar gepinnt. Der richtigeName des Shakespeare-Mimen, der in der Zeitung genannt wurde, war ebenfalls der eines Juden, eines Armeniers, der aus einem Arbeitslager entkommen war.
    Die Juden aus Greenwich Village waren für Tommy bessere Fakes als die anderen. Ihre Fälschungen schienen aus einem Fundus der Enteignung und der Selbstironie zu schöpfen, der jeden einzelnen von ihnen zu einem exilierten König dieser grotesken Stadt machte.
    Tommy liebäugelte damit, sich ebenfalls als Jude auszugeben, fand die Vorstellung dann aber jedes Mal zu schräg, um sie auch nur probeweise laut auszusprechen.
    Nach ihren Konzerten trank Tommy abends immer noch ein Guinness auf Kosten der Veranstalter, während seine Brüder sich einen Vollrausch ansoffen oder auf Schürzenjagd gingen oder von Vollräuschen und Schürzenjagden prahlten. Tommy ging nicht auf Schürzenjagd. Tommy pirschte sich in dieser Welt der Fälschungen an Chimären der Authentizität heran. Sein harmloses Beobachtertum wurde ihm nirgends missgönnt. Hätte man jetzt herumgefragt, hätte sich niemand an eine Zeit erinnern können, in der es keinen dritten Gogan gegeben hatte, das war so schlüssig wie jeder Dreisatz. Er konnte kommen und gehen, wie er wollte, war der kleine Bruder, den jeder gern hatte. Tommy prüfte die Sänger, die vor und nach ihnen auftraten, und trennte, so gut er konnte, die Engagierten von den Surrogaten; Tommy legte Lomax’ Feldaufnahmen Negro Prison Blues and Songs auf, die ansonsten unberührt in den Plattenregalen neben Peters Stereoanlage verstaubten; Tommy frequentierte unaufdringlich das Folklore Center und das Büro von Caravan und nickte im Takt mit, wenn die Protestbarden zu Transkriptionszwecken frische Songs auf Band aufnahmen; auf der Bühne durfte Tommy sie zwar nicht spielen, aber er aß, schlief und badete mit seiner Silvertone; Tommy focht täglich gegen seine Grenzen als Gitarrist und trieb mit seinen Talking-Blues-Selbstbegleitungen jedermann in Hörweite die Wände hoch, seine langen Finger waren wenn überhaupt zu lang und führten dazu, dass er auf Barrégriffe angewiesen war; eines Tages im Mai ’59 debütierte Tommy imHinterzimmer vom Spur vor seinen Brüdern mit seiner Eigenkomposition »A Lynching on Pearl River«. Er hatte einen Song geschrieben. Sie sollten darüber genauso erstaunt sein wie er. Mack Parkers Leiche war noch kaum aus dem Schleppnetz gewickelt worden, als ihm der Songtext einfiel und mit Hilfe der Herald Tribune durch die mit einem stumpfen Bleistift kritzelnden Finger auf eine Papiertüte floss.
    Rye blickte finster drein. »Warst du in Mississippi, als wir grad nicht hingeschaut haben, Brüderchen?« Rye der Rüpel mochte keine Neger und hatte es deswegen sogar mal abgelehnt, als Vorgruppe zu Nina Simone aufzutreten, bis Peter ihn deswegen zusammengestaucht hatte.
    »Ich kann genausogut wachgerüttelt werden wie jeder andere auch«, sagte Tommy. »Oder bedeuten euch Bürgerrechte etwa gar nichts?«
    »Bei einem Konzert der Gogan Boys ist noch nie ein Bimbo aufgetaucht, Brüderchen. Und die Sozen musst du mir erst mal zeigen, die je dafür gezahlt hätten, eine einzige Note Musik zu hören. Die können sich doch nicht mal von einem Fünfcentstück trennen, wenn eine Arbeitermütze rumgeht. Die Gewerkschaftshymnen singen sie selber, warum also dafür zahlen? Bei den Kundgebungen schleppt irgendwer ein schlechtgestimmtes Banjo an, und alle jaulen mit.«
    Peters vernichtendere Reaktion bestand darin, den Daumen an die Oberlippe zu legen und die Augen zuzukneifen, als wäre die Melodie mit seinem Kater kollidiert. »Wie heißt das noch gleich … für solche Songs gibt’s doch einen eigenen Begriff, oder?«
    »Es ist ein thematisches Lied«, sagte Tommy.
    »Ja, genau. Thematisch. Aber bin ich der Einzige, der das fragliche Thema ein

Weitere Kostenlose Bücher