Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
wieder aus, das Gefühl der über die Seide gleitenden Glieder lässt sie vor Entzücken erschauern. Sie dreht die Flasche mit dem Mund auf, spuckt den Verschluss aus und trinkt die dunkle Flüssigkeit, dick und karamellsüß. Sie lässt eine Hand zur aufgerissenen Kekspackung wandern, nimmt drei Plätzchen heraus und stopft sie sich in den Mund, Krümel regnen auf sie herab, die sie achtlos aufs Bett, auf den Boden fegt. Sie kann tun, was sie will, ohne Bestrafung, ohne Belehrungen, ohne Beaufsichtigung.
Deqo wacht in einem dämmrigen, fremden Zimmer voller Schatten und dunkler Nischen auf, und das nasse Gefühl an den Beinen versetzt sie in Panik. Sie springt vom Bett auf und sieht die Lache dunkelroten Sirups auf der Steppdecke. Sie verwünscht sich selbst, weil sie diesen Palast innerhalb so kurzer Zeit verdreckt hat, und packt die klebrigeFlasche. Sie zieht den schweren Seidenstoff weg, und zu ihrer Erleichterung sind die Laken darunter immer noch makellos; sie rafft die Decke zusammen und trägt sie ins Bad, will sie später waschen. Vom Krieg hinter den Mauern dringt kein Geräusch ins Haus; es hallt und summt und tickt in den Räumen, als wäre Deqo von einem Riesen verschluckt worden und steckte in seinem Brustkorb fest. Sie tanzt und schlittert über die gefliesten Böden; sie fühlt sich vollkommen sicher in diesem Versteck, einzig das Tappen ihrer Füße leistet ihr Gesellschaft. Unter einer Tür dringt Licht hervor, und ihr fallen die anderen Zimmer ein, die ebenso üppig möbliert sind wie das, in dem sie geschlafen hat. Sie drückt die Tür auf – das Zimmer ist voller Schatten, riesiger Schatten, die über alle Wände schwirren. Sechs weiße Nachtfalter flattern zwischen Glühbirne und geblümtem Lampenschirm. Ob dies die einzige Lichtquelle ist, die sie ausfindig machen konnten, ob die restliche Stadt wohl in reglosem Dunkel liegt und ob die Insekten wohl wie sie Angst davor haben, was in dieser Dunkelheit alles passieren kann?
Deqo geht zum Fenster und entdeckt das Loch im Fliegengitter, durch das die Nachtfalter hereingekommen sein müssen. Es ist kurz vor Einbruch der Dunkelheit, und ein Strich wässrigen Indigoblaus trennt den schweren Himmel von der dunklen Erde. In der Ferne schießen Leuchtraketen wie Sterne in den Himmel, ziehen giftiggrüne Streifen hinter sich her. Eine fremde Welt wird zerstört, der sie nicht angehört und von der ihr nichts gehört. Nachdem sie die Vorhänge zugezogen hat, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf den Schlüssel im Schrank; er knackt wie ein steifer Knöchel, dann gehen die dicken Spiegeltüren auf. Er ist mit Kleidern vollgestopft, die Metallstange biegt sich unter ihrem Gewicht, auf dem Boden stehen reihenweise Schuhe. Deqo nimmt ein Paar silberne High Heels heraus und schlüpft hinein, hinter der Ferse klafft eine faustgroße Lücke. Zwischen den Kleiderlagen erspäht sie Pailletten und bekommt einen Zipfel zu fassen, eine Art kurzärmliges, schwer besticktes Oberteil, vorn prangt eine Palme aus Perlen in allen Edelsteinfarben. Ein breitkrempiger schwarzer Hut vervollständigt das Outfit, und Deqo tritt schwankendein paar Schritte zurück und betrachtet sich im Spiegel; zum ersten Mal gefällt ihr das Mädchen, das da zurücklächelt.
Nach ein paar ereignislosen Stunden am Theater-Checkpoint kommt ein weiterer Befehl von Hashi, Filsan soll sich Roble auf der Jigjiga Road Richtung Äthiopien anschließen. Ein Jeep holt sie ab, und trotz der Gefahren, die in dem angesteuerten Distrikt lauern, springt sie bereitwillig in den Wagen. In den Bergen um Hargeisa verstecken sich Hunderte Rebellen, und die Schusswechsel zwischen ihnen und den Soldaten hallen durchs Tal. Filsan bedeckt ihre Nase gegen den stechenden Rauch, der von den brennenden Häusern herüberweht, und kurbelt das Seitenfenster hoch. Sie hat nichts dabei, was sie Roble geben könnte, nicht einmal eine Flasche Cola; der einzige Trost, den sie bieten kann, ist ihre Anwesenheit. Das ist hoffentlich genug. Im Vorbeifahren entdeckt man kleine, in den Bergen herumkletternde Punkte; die Flüchtlinge ähneln bunten Deckenbündeln, die sich wie Ameisen in Kolonnen fortbewegen.
«Sollten lieber in ihren Betten bleiben und nicht hier draußen sterben», sagt der Fahrer, dessen Dialekt Filsan an zu Hause erinnert.
Ihr Interesse ist geweckt, und sie wendet sich ihm zu. «Wann bist du aus Mogadischu gekommen?»
«Vor drei Tagen. Ich habe kaum geschlafen, bin bloß gefahren, gefahren, gefahren.» Er
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