Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
sie hört noch das geringste Geräusch und fühlt sich wie ein Tier, das gleich zerrissen wird. Der Geruch verbrannten Fleisches weht zu ihr herüber, und sie hält die Luft an.
Irgendwo neben ihr feuert Groß-Abdi. Kugeln prallen hell tönend von der Karosserie des schwelenden Jeeps ab und fallen mit einem dumpfen
Plop
in den Sand. Die Rebellen sind ungefähr vier Meter von ihnen entfernt; Filsan kann nicht sagen, wie viele es sind, aber sie muss diesen Abstand einhalten und zerrt Robles Kalaschnikow näher zu sich heran, um sie zu verwenden, wenn ihr Magazin leer ist.
«Mich hat‘s getroffen!», schreit einer der Rebellen.
Eine Taschenlampe blinkt auf, nur kurz, aber es genügt, dass Filsan eine Gestalt ausmachen kann, einen knochigen, jungen Mann mit Brille, der an ihrer Uni Naturwissenschaften studiert haben könnte. Sie eröffnet das Feuer auf ihn.
Der Beschuss durch die Rebellen lässt nach. Filsans Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie kann zwei Silhouetten ausmachen, eine kriecht hastig davon, die andere hinkt verzweifelt hinterher.
«Nicht aufhören, Corporal, nicht aufhören.» Groß-Abdi ist irgendwo hinter ihr, seine Stimme klingt jetzt schwächer als vorher.
Sie braucht keine Ermunterung. Die Erhaltung ihres kleinen, nichtigen Lebens – des Lebens, das sie so oft beenden wollte – ist das Einzige, was zählt.
Ein neues Geräusch ergänzt die Kakophonie, ein Wagen kommt schlitternd hinter dem Jeep zum Halten.
Immer noch feuernd, wirft Filsan einen Blick über die Schulter, ob noch mehr Rebellen angerückt sind, aber es ist eine Einheit von Soldaten im gepanzerten Mannschaftstransporter. Sie schießt weiter, ihr ganzer Körper zittert vor Angst und Erleichterung.
Die Soldaten verteilen sich um den Jeep, und bald brechen zwei Rebellen zusammen, schlagen dumpf auf dem Boden auf, die anderen versuchen,wieder mit der Dunkelheit zu verschmelzen, aber man setzt ihnen zu Fuß nach.
Während die Kugeln um sie herumpfeifen und das Echo der Schüsse von den Bergen widerhallt, kriecht Filsan auf Händen und Knien zu Roble. Seine Augen und Lippen sind geöffnet, als wäre er mitten im Satz unterbrochen worden. Sie presst zwei Finger auf seine Halsschlagader. Nichts.
Nach sieben Anläufen springt der Fernseher endlich an; aus der Holzkiste schreit es erregt, woraufhin sich Deqo unter das Bett verkriecht. Das Gesicht einer Frau füllt den Bildschirm, verschwörerisch lächelnd wendet sie sich direkt an Deqo. «Wir werden Ihnen heute einen wunderbaren Abend bereiten, bis zehn Uhr werden Komiker Sie unterhalten, Sänger Ihnen Ständchen bringen und Dichter Sie zu Tränen rühren. Rufen Sie Ihre Familie und die Nachbarn zusammen, stellen Sie Tee auf den Tisch und vergessen Sie Ihre Sorgen.»
«O.k.», gibt Deqo zur Antwort und schielt unter dem Bett hervor.
«Unser erster Gast ist Ihnen sicherlich wohlbekannt. Bitte begrüßen Sie Sheikh Sharif von Mogadischu.»
Das Bild weitet sich, damit auch Sheikh Sharif, der knallorangefarbene Hintergrund und die Köpfe des Publikums noch hineinpassen. Zu Deqos Erstaunen ist Sheikh Sharif in diesem eleganten Theater wie ein armer Nomade angezogen, mit
ma’awis
, Wickelrock, und Weste, ein
caday
zwischen den Zähnen; er rennt über die Bühne und hat die Augen wegen der auf ihn gerichteten Scheinwerfer zusammengekniffen.
«Nehmt diese Dinger weg, ich sehe ja gar nicht, wo ich hintrete!», schreit er, hebt eine Hand vor Augen und stolpert theatralisch.
Deqo und das Publikum lachen.
«Joow
! Kenne ich Sie nicht?» Er zeigt auf einen Mann in der ersten Reihe. «Sind Sie nicht der Neffe der besten Freundin der Cousine der Schwägerin der Tante von Hassan Madoobe? Aber natürlich! War das nicht Ihre Mutter, die von Straußen niedergetrampelt worden ist?»
Die Kamera zeigt den Mann im Publikum in Großaufnahme, der erheitert den Kopf schüttelt.
«Aber natürlich! Haben Sie heute Abend Ihren gesamten
reer
mitgebracht? Der Saal ist so gestopft voll wie der Geldbeutel, in dem meine Frau ihre Schwarzmarktdollar aufbewahrt.»
«Weshalb erzählst du Fremden von unseren Geschäften?», kreischt eine Stimme aus den Kulissen.
Das Publikum jubelt, und ein Hutzelweibchen kommt heraus, Jahrzehnte älter als Sheikh Sharif, droht ihm mit dem Stock und jagt ihn rund um die Bühne, während er um Hilfe fleht.
«Tollai
! Halt sie doch mal einer auf! Straußenjunge, komm und weis sie in ihre Schranken! Das hat man davon, wer das tiefe Land verlässt, dem bleibt die
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