Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
deutet mit der flachen Hand auf die Straße.
«Wie ist die Lage dort?»
«Schwierig, die Stadt ist voller Flüchtlinge aus dem Norden.»
Das ist Filsan egal; sie will wissen, welche Sänger in ihrer Abwesenheit den Durchbruch geschafft haben, ob das Strandcafé Lido noch geöffnet hat und ob der Fernsehempfang besser geworden ist.
Er erzählt ihr, dass er in Wardhiigley geboren, aber in Hamar Weyne aufgewachsen und zu einer Schule gegangen ist, von der sie nur ganz vage gehört hat; als junger Mann war er Mechaniker, bevor er in die Armee eingetreten ist. Sie haben keine gemeinsamen Verwandten, Bekannten oder Interessen, und rasch geht ihnen der Gesprächsstoff aus.
Der Jeep verlässt die asphaltierte Straße und erklimmt einen unbefestigten Weg. «Näher kann ich nicht ranfahren, geh einfach der Biegung nach, dann siehst du sie.»
Filsan wischt sich über die Stirn, hoffentlich sieht sie nicht allzu schlimm aus oder riecht abstoßend. So hatte sie sich die Wiederbegegnung nicht vorgestellt, aber es ist allemal besser als Warten.
Plötzlich ist er da, lehnt mit einem Fernglas vor den Augen an einem Felsblock; sie bleibt stehen und genießt seinen Anblick, ruhig und gelassen, da prasselt nur ein paar Meter entfernt Maschinengewehrfeuer gegen den Felsen. Nach einer Ewigkeit, immer noch das Fernglas vor den Augen, bemerkt er Filsan, ein breites Lächeln zieht sich über das Gesicht mit dem Viertagebart. Er breitet die Arme aus, obwohl er weiß, dass sie sich nicht hineinwerfen wird; stattdessen rennt sie auf ihn zu und umfasst mit beiden Händen seine Hand und schüttelt sie.
«Willkommen, willkommen,
jaalle!»
, er winkt sie zu den anderen hinüber. «Das ist Corporal Abbas, das sind die Gefreiten Samatar und Klein-Abdi. Groß-Abdi hat sich gerade hinter den Felsbrocken zurückgezogen.»
Filsan salutiert, und scherzhaft nehmen die Männer Haltung an und schlagen die Hacken zusammen.
«Haben Sie was zu essen mitgebracht?», fragt Abbas.
«Tut mir leid, ich habe selbst nichts gegessen.»
«Wir sterben hier oben garantiert den Hungertod», stöhnt er.
Filsan sieht zu Roble hoch. «Wann warst du zum letzten Mal unten in der Stadt?»
«Vor zwei Tagen, ein einziges Schlachtfeld! Ständig heißt es, nur noch ein paar Stunden, nur noch ein paar Stunden, aber abgesehen von dir ist immer noch keine Verstärkung gekommen.»
«Sie haben mir nicht gesagt, dass ich Verpflegung mitbringen soll.» Sie tut so, als suchte sie in ihren Taschen nach Schokolade.
«Ist nicht deine Schuld.» Roble tätschelt ihr die Schulter. «Zumindest hatten wir keine Probleme.»
«Keine Probleme?»
«Nichts. Wir beobachten die Lage, und zwar durchs Fernglas – besserals Kino. Da, guck mal.» Roble streift sich den Riemen des Fernglases über den Kopf und reicht es Filsan.
Hargeisa bietet ausnahmsweise einen schönen Anblick, violett und rosa der dunstige Himmel, rauchdunkel die Wolken, auf den Blechdächern spiegelt sich in goldenen Lachen die riesige, orangefarbene Sonne, die eben versinkt. Tiefe Schatten verbergen die Zerstörung. Filsan hält sich das Fernglas vor die Augen und sucht, bis etwas ins Blickfeld kommt: ein Stück Straße und Räder. Ein weinroter Toyota hält am Straßenrand, und ungefähr acht Zivilisten drängen heraus. Noch mehr Flüchtlinge rennen die Straße entlang, gehen atemlos ein paar Schritte, ehe sie wieder loslaufen. Sie schwenkt zurück zum Auto und beobachtet, wie ein Vater seine kleine Tochter – ein ungefähr fünfjähriges Mädchen im fleckigen Kleid – zum Pinkeln ans Gebüsch neben der Straße begleitet; er hält sie unter den Armen und seine Schuhe außer Reichweite. In der Nähe geht ein Granatenschauer nieder, nur zwei, drei Meter von Vater und Tochter entfernt, und alle Passagiere springen aus den Büschen und laufen zum Auto zurück. Der Vater flitzt ebenfalls los und bedeutet dem Mädchen verzweifelt, sich zu beeilen. Sie stolpert hinterher und zieht dabei mit einer Hand die Unterhose hoch. Der Vater springt in das Auto, als es gerade anfährt, er hält die Tür auf, aber der Fahrer gibt Gas und fährt davon, das kleine Mädchen bleibt in einer Auspuffwolke zurück. Noch mehr Geschosse gehen nieder, aber das Mädchen rennt dem Wagen hinterher, bis sie im aufgewirbelten Staub einer Katjuscha-Salve verschwindet. Ungläubig lässt Filsan das Fernglas sinken, der Vater hat sein Kind einfach dem Tod überlassen. Das Auto, jetzt nur noch ein dunkler Fleck, fährt auf der kurvenreichen Straße
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