Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
hinter der unlackierten Holztür des Vorraums. Als sie so alt war, wollte sie Pilotin bei der staatlichen Fluggesellschaft werden, ein phantastischer Plan, der nie zum Tragen kam, ihr damals aber realistisch vorkam, als der einzig mögliche.
Als sie alt genug war, um sich um einen Studienplatz zu bewerben, stand ihr Vater schon zu sehr unter Verdacht, als dass er Einfluss auf die Professoren der Fakultät für Luftfahrt hätte nehmen können. Filsan stellt sich vor, wie die Nadel in den schmalen Arm des Schülers dringt, das dicke, rötlich braune Blut herausfließt, langsam, schmerzlos, mit tödlichen Folgen. Wann ist ihnen aufgegangen, dass das Leben aus ihnen heraussickert? Dass trotz aller Strahlkraft und allem Lärm ihres kurzen Lebens nur der Tod seine Ranken um sie schlingt?
Filsan ist von den Geschehnissen im Zimmer nebenan zugleich fasziniert und abgestoßen. Ist sie tapfer genug, um sich für die Teenager zu opfern? Oder soll sie sich einer Zukunft ergeben, in der sie mit ergrauendem Haar neben ihrem Vater in gleichen Sesseln sitzen wird? Die Entscheidung wird ihr abgenommen, denn die Tür geht auf und ein Krankenwärter trägt den letzten Leichnam heraus; ein Mädchen, ihre langen schwarzen Zöpfe schwingen und hüpfen, ihre Handgelenke sind von den Fesseln befreit, ihr Gesichtsausdruck ist ruhig und verzückt.
Filsan rutscht vom Bett; die Tabletten haben ihre Schmerzen so weit betäubt, dass sie mit dem Krankenwärter heimlich Schritt halten kann.
Zeit zu gehen, findet Deqo. Vor dem Tod selbst hat sie keine Angst, aber die Vorstellung, dass ihre Leiche von den Aasfressern der Stadt verschlungen würde, scheucht sie aus der gemütlichen Einsamkeit, die sie so unbekümmert genossen hat. Menschen bedeuten sowohl Gefahr als auch Schutz. Ihre neuen Besitztümer muss sie unbedingt mitnehmen – die Schuhe, Kleider, Konservendosen, den Taschenspiegel –, sie legt alles in ein Tuch und knotet es zusammen, um ihre Schätze eifersüchtigen Blicken zu entziehen. Zeit, nach Saba’ad zurückzugehen, zu klumpigem Haferbrei, Staub und endlosem Warten.
Sie räumt das Chaos auf, das sie da und dort angerichtet hat, verabschiedet sich von jedem Raum und schließt respektvoll die Türen. Im Mangobaum sitzen keine Geier mehr, auf der Straße sieht sie jedoch zwei der Vögel auf den Knien des Mannes hocken, die Hunde müssen die untere Körperhälfte ausgegraben haben, entschlossen hacken dieVögel in seine Schenkel. Deqo marschiert in die entgegengesetzte Richtung.
Die Straße wimmelt von Milizionären, die teils
whodead
-Kleider, teils Tarnuniformen tragen und geschickt wie Umzugsleute die Häuser ausräumen: Drei kleine Männer tragen auf ihren Köpfen einen riesigen Schrank in einen bereitstehenden Lastwagen, während ein Junge das Wellblechdach von einem Samosa-Stand zerrt.
Sie meidet die Checkpoints, so gut es geht, und wenn es nicht möglich ist, redet sie sich heraus. Ihr verwahrloster Zustand überzeugt die Soldaten davon, dass sie tatsächlich die ist, für die sie sich ausgibt. Ein paar Teebuden und Cafés haben noch offen, versorgen die Armee, aber sonst ist alles wie ausgestorben. Sie verliert die Orientierung, weiß nicht mehr, wo sie sich befindet, wo ihr Graben liegt, und sieht sich nach Anhaltspunkten um, die sie aus der Stadt leiten könnten, verirrt sich schließlich in ein hübsches Viertel, wo in den Höfen traurig Ziegen meckern.
Die Sonne hat ihren Zenit überschritten, und Deqo spürt, wie ihr der Schweiß die Schläfen hinabrinnt. Sie lehnt sich an eine Bungalow-Wand und dabei fällt ihr der Garten gegenüber ins Auge, über dessen mit Glasscherben gespickte Mauer ihr große Obstbäume zuzuwinken scheinen. Sie entdeckt ein niedriges Holztor, springt daran hoch und klettert darüber. Es ist, als wäre sie wieder im Graben, nur ist es hier ordentlicher und riecht besser. Der Boden ist mit Granatäpfeln, Tamarinden und Papaya übersät. Sie sammelt Früchte in ihrem Rock, setzt sich in den Schatten eines Baums und isst eine verrunzelte gelbe Papaya, spuckt die schmierigen schwarzen Kerne so weit wie möglich weg. Jemand hat viel Arbeit in diesen Garten gesteckt, da gibt es keine verbuschten, ungenutzten Flecken, keine zerrissenen Schläuche, in den Ecken türmt sich kein Metallschrott. In den Nestern über ihr singen Webervögel, und eine Armlänge entfernt blühen Blumen mit trompetenförmigen Blüten.
Der friedliche Garten verleiht Deqo Mut, und neugierig schleicht sie auf den kleinen, blau
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