Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
ihr, hörst du?» Sie rückt ihr Barett zurecht.
«Ist sie eine …?» Deqo zögert vor diesem mächtigen Wort, das sie ihr kurzes Leben lang verfolgt hat.
«Eine Hure? Definitiv und vieles andere obendrein.»
Gedankenversunken, den Blick auf den Boden gerichtet, marschiert Deqo zum Graben zurück. Noch hat sie Zeit, bei den Höfen Obst einzusammeln, sie wird den Markt noch erreichen, bevor dieser über Mittag schließt. Mechanisch treiben ihre Beine sie voran, doch in ihrem Kopf schwirrt es nur so vor Erinnerungen an Saba’ad, aufgewirbelt durch die Begegnung mit Nasra und China in der Gefängniszelle. «Hurenkind! Hurenkind! Hurenkind!» Das hatten ihr die anderen Kinder im Lager ins Gesicht gebrüllt, seit sie zurückdenken kann, aber sie hatte nicht gewusst, was eine Hure war; es hörte sich übel an, wie Kannibale oder Hexe oder eine Art Dschinn, aber keiner der Erwachsenen wollte erklären, was eine Hure zur Hure machte, und die Kinder schienen nicht viel mehr zu wissen als sie. Sie war in Sünde geboren, der Bastard einer unreinen Frau. Den Kindern zufolge verhielt es sich mit ihrer Geburt so: Eine junge Frau war allein und zu Fuß ins Lager gekommen, hochschwanger und mit von Dornen zerfetzten Füßen. Die Schwestern in der Klinik hatten ihr die Füße bandagiert und sie da behalten, bis das Kind kam. Sie weigerte sich, ihren Namen oder den ihres Ehemannes zu nennen, und als Deqo geboren wurde, verließ sie ihr eigenes Kind, ohne ihm einen Namen zu geben. Ein Jahr später hatte Deqo von den Schwestern einen Namen bekommen, als sie immer wieder aus dem Metallgitterbett kletterte, in das die Waisen gesteckt wurden, und verschwand. Deqo-wareego lautete ihr voller Name, «wandernde Deqo», und sie merkte, dass es etwas gab, das sie durfte und die anderen Kinder nicht – umherstreifen, so weit sie wollte. Sie gehörte eher zum Wind und den Feldwegen als zu einem anderen Menschen; keine wachsame Mutter war hinter ihr her, in alle Richtungen ihren Namen brüllend.
Zuerst hatte sie geglaubt, ihre Mutter sei ein Dschinn, der sich nur für kurze Zeit in einen Menschen verwandelt und dann wieder zurückverwandelt hatte, aber sie fror ständig und konnte daher keine Mutter haben, die aus Feuer gemacht war. Dann mutmaßte sie, ein Taifun hätte ihre Mutter davongeweht, aber zu viele der älteren Waisen sagten, sie hätten sie auf ihren eigenen zwei Beinen davongehen sehen. Schließlich beschloss sie, dass ihre Mutter, diese «Hure», von der die anderen immer sprachen, nicht wie andere Frauen war, die neben ihren Kindernlebten und starben, sondern eine Mutter von eigener Art, die wusste, dass ihr Kind gekleidet und genährt würde, nur eben nicht von ihr, wie ein Vogel, der sein Ei in ein fremdes Nest legt.
So war Deqo mit der Vorstellung aufgewachsen, sie wäre ein Kuckuck inmitten der anderen Lagerkinder, deren Eltern vor dem Krieg und der Hungersnot geflohen waren, die den Osten Äthiopiens von den Siebzigern bis in die Achtziger heimgesucht hatte. Manche waren Somalier, andere Oromo, aber alle hatten ihre Familie oder einfach auch nur ihren Familiennamen und ihren Clan, die ihnen halfen. Deqo wünscht sich inniglich, sie hätte einen zweiten oder dritten Namen; sie will nicht gierig sein und Gott um eine ganze
abtiris
, eine Abstammungslinie von mindestens siebzehn Namen bitten, bloß zwei mehr, damit sie sich in die Brust werfen und den Menschen ihre Existenz kundtun könnte. Als sie noch zu klein war, um es besser zu wissen, hatte sie sich «Rotes Kreuz» genannt, denn so hieß die Klinik, in der sie lebte, aber die gerunzelten Stirnen der weiß gekleideten Krankenschwestern verrieten ihr, dass dies kein geeigneter Ersatzname war. So war sie einfach Deqo oder manchmal auch Deqo-wareego, wenn die Schwestern sie anbrüllten, und wartete darauf, dass sich ihre Gebete erfüllten.
Als Anab Hirsi Mattan ins Waisenhaus kam, ungefähr sechs Jahre alt, den Kopf wegen der Läuse geschoren und irr vor Kummer, hatte man Deqo damit betraut, sich um sie zu kümmern. Als Anab weggerannt und zur Begräbnisstätte gelaufen war, war ihr Deqo dicht auf den Fersen, beobachtete nervös, wie das kleine, fledermausohrige Mädchen auf den Erdhügel eintrommelte, der seine Mutter bedeckte. Die älteren Gräber waren mit Steinen, Holzbrettern oder dornigen Akazienzweigen markiert, aber die neueren waren nicht geschmückt und lagen auf dem Abhang wie eine Woge, die den Hügel emporrollt. Der Friedhof ähnelte dem Gemüsebeet zwischen
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