Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
«Tja, wir alle sind wohl bloß Schauspieler, und das Ganze ist eine große Bühne. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber diese zerrissenen Kleider sind mein Kostüm, und beim Weinen vergieße ich Krokodilstränen.»
Kawsar lächelt. «Und wenn kein Publikum anwesend ist, stehe ich auf und tanze zur Musik aus dem Radio.»
«Das wissen wir doch alle.» Spaßhaft droht ihr Maryam mit dem Finger.
«Kennen wir die Männer?»
«Nein, die Namen kamen mir nicht bekannt vor, aber vielleicht sind sie ja auch Schauspieler, die bloß ihre Rolle spielen.»
«Das hoffe ich für sie.»
«Morgen gehe ich mit den Schülern zu einer Demo.» Mit dieser Ankündigung bricht Nurto später am Abend das Schweigen. «Damit sie mit den Exekutionen in der Birjeeh-Festung aufhören.»
«Du gehst nicht, Nurto. Ich verbiete es.»
«Ich gehe, ob du willst oder nicht.»
Kawsar schwenkt drohend ihre Tasse in Nurtos Richtung. «Wenn du morgen mitgehst, mach dir bloß nicht die Mühe und komm etwa hierher zurück. Ich bitte Maryam, deine Sachen zusammenzupacken und draußen vor die Tür zu stellen.»
«Wie kannst du so was sagen? Ich versuche doch bloß zu helfen!»
«Du hast keine Ahnung, in welche Gefahr du dich begibst, ich schon, und so lange du unter meinem Dach wohnst, bin ich dein Vormund, ob du nun willst oder nicht», sagt Kawsar vehement und verschüttet heißen Tee auf ihre Schenkel.
«In deinen Augen ist alles, was ich mache, falsch. Dir wär’s wohl am liebsten, wenn mich die Erde einfach verschlingen würde.»
«Nurto, das stimmt doch nicht. Wenn es mir egal wäre, würde ich dich gehen lassen. Vertrau mir einfach, wenn ich sage, dass ich mehr über diese Dinge weiß als du, ich habe am eigenen Leib erfahren, was passieren kann.»
Kawsar spult vor ihrem geistigen Auge die Ereignisse ab, die Hodan vom Klassenzimmer auf den Friedhof brachten, aber sie ist unsicher, was sie Nurto, wenn überhaupt, verraten soll. «Bin ich nicht das beste Beispiel, wozu sie fähig sind?», fragt sie schließlich und rührt nicht an ihrem Schmerz.
Gleichgültig zuckt Nurto die Schultern und trägt das schmutzige Geschirr in die Küche.
Kawsar stellt die Tasse auf ihren Nachttisch und reibt mit einem Umschlagtuch an dem feuchten Fleck auf ihrer Decke herum. Die Vorstellung mutet seltsam an, dass sich in diesem langweiligen Bungalowfrüher einmal so viele Dramen abgespielt haben, dass gegen Ende das Zusammenleben mit Hodan wie ein Hindi-Film gewesen war, voll verhängnisvoller Missverständnisse und tragischer Vorkommnisse. Die erste Einstellung müsste den letzten Morgen voller Normalität im Februar 1982 zeigen, als Hodan in ihrer rosa Uniform zur Schule ging und Kawsar ihr nachsah, wie sie die winterliche Straße Richtung Guryo Samo Middle School entlangging. Dass an diesem Tag die Krankenhausärzte verurteilt werden sollten, bedeutete ihr wenig, in Gedanken war sie bei den Besorgungen, die sie zu erledigen hatte, ehe ihre Tochter zum Mittagessen nach Hause kam. Als Kawsar mit neuen Schuhen für Hodan unterm Arm vom Markt zurückkam, hatten sich alle Nachbarn auf der Straße versammelt. Sie redeten laut und zusammenhanglos, die Hände in die Hüften gestemmt, bis ihr Maryam zurief: «Sie haben alle Ärzte zum Tod verurteilt, und jetzt drehen die Schüler durch.» Ungläubig schüttelte Kawsar den Kopf – da musste ein Missverständnis vorliegen, oder die Leute übertrieben. Wie konnten sie zehn Ärzte hinrichten, weil diese eine Sanierung des Krankenhauses gefordert hatten? Man würde sie höchstens feuern, weil sie ihre Vorgesetzten schlecht aussehen ließen. Der Morgen verging, und ihre Nachbarn berichteten immer Schlimmeres: In der Nähe des Gerichtsgebäudes waren tödliche Schüsse auf die Demonstranten abgefeuert worden; Hunderte von Schülern verließen ihre Klassenzimmer und versammelten sich Steine werfend vor dem Polizeirevier; Soldaten wurden zur Unterstützung der Polizei abkommandiert.
Kawsar legte das zur Hälfte geschälte Gemüse in eine Schüssel und marschierte zur Schule, um Hodan heimzuholen. Das einstöckige Gebäude war leer, die Rohrstöcke waren in den Händen der Lehrer nutzlos geworden. «Sie ist mit den anderen zusammen weg», wiederholte Hodans Lehrer immer wieder, aber Kawsar warf trotzdem in alle Klassenzimmer einen Blick, in der Hoffnung, irgendwo ihre Tochter allein und lesend vorzufinden. Als sie das Stadtzentrum erreichte, waren die Schüler im Gewühl ihrer besorgten Angehörigen kaum auszumachen; die
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