Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
davon überzeugen können, wieder in die Schule zu gehen. Kawsar sah, wie ihre Tochter sich im Bad wieder und wieder die klebrigen Hände wusch, und spürte, wie alle Worte sie verließen. Ihr Verhältnis, das zuvor so innig gewesen war, war brüchig geworden. Von dem Augenblick an, in dem Hodan geboren worden war, hatte Kawsar ihren Duft eingeatmet, als wäre er die Luft, die sie am Leben hielt. Ihre Schönheit und Zerbrechlichkeit zogen Kawsar das Herz zusammen. Sie war eifersüchtig auf Farah gewesen, wenn Hodan auf seinen Knien saß und beim Vorlesen mit ihrem Finger den Sätzen folgte. Es war, als stehle er Kawsar Zeit mit ihrer Tochter, aber als Farah kurz nach Hodans neuntem Geburtstag starb, beobachtete Kawsar stolz, wie sie sich auf seinen Stuhl setzte und weiterhin seine Bücher las. Stets hatten sich Mutter und Tochter durch Berührungen und Küsse verständigt, zusammengekuschelt im selben Bett geschlafen, aber innerhalb eines einzigen Augenblicks war diese federleichte Zwiesprache verloren gegangen. Sprach sie das Wort aus, das beide ungesagt ließen, wäre die vorgebliche Ruhe auf ewig dahin, würde wahrscheinlich alles zerbrechen, die Schande ihrer beider Leben beherrschen. Hodan weigerte sich schlichtweg, das Haus zu verlassen, und Kawsar fügte sich eher, als dass sie ihrer Tochter die Worte entrissen hätte.
Das stumme Brabbeln war das erste Anzeichen von Hodans Krankheit gewesen; wie lautlose Gebete, die aber jedem Zweck entfremdet waren. Kein schlichtes
bismallah
vor dem ersten Bissen einer Mahlzeit oder ein
ashahaado
beim Zubettgehen, sondern lange, eilige, angsterfüllte Sätze, wobei sie die Augen zukniff, als gebe sie aus tiefster Seele Unschuldsbeteuerungen oder blutrünstige Eidesschwüre von sich. Kawsar tat, als bemerkte sie nichts, aber ihr Blick glitt von der Näherei in ihrer Hand oder von der Bügelarbeit zu ihrer in einer Ecke zusammengekauerten Tochter, die so weit entfernt schien wie der fernste, kälteste Stern am Himmel. Dann kamen die Fragen, stets mit dem leichten Beigeschmack des Vorwurfs, Hodans Augen waren dabei weit aufgerissen, wachsam wie die einer Eule. Nicht einmal das kleinste Zucken, die kleinste Reaktion entgingen ihr, und sie schenkte diesen unabsichtlichen Regungen mehr Aufmerksamkeit als den Worten, diesie ohnehin offenbar alle für Lügen hielt. Manche von Hodans Fragen wirkten harmlos, banal; sie wollte nur wissen, warum Kawsar so lange gewartet hatte, bis sie endlich ein Kind bekam. Aber keine der Antworten schien sie zufriedenzustellen, und am folgenden Tag, der folgenden Woche, dem folgenden Monat wurde diese Frage wiederholt, in dieser oder jener Form erneut gestellt.
Dann kam das obsessive Waschen, sie schrubbte sich die Hände, bis die Haut Blasen warf und sich schälte. Vor dem Mittagessen legte Kawsar Teller und Löffel auf den Tisch, und Hodan spülte beide ab, bevor sie aß – damals als sie sich noch das Besteck mit ihrer Mutter teilte, ehe die dämmerblaue Blechschüssel mit dazugehörigem Löffel auftauchte. Das kleine Mädchen, das mit Fleisch aufgepäppelt worden war, das im Mund ihrer Mutter weichgekaut worden war, schien nun abgestoßen von Kawsars Berührung, war aber weiterhin zu verwöhnt, um für sich selbst zu kochen, die Handhabung des Holzkohleofens war ihr zu umständlich, als dass sie sich die Mühe gemacht hätte.
Kawsar nahm alles hin, tat, als sähe sie es nicht, dass Hodan mit ihren Fäusten wütend ihre Schläfen bearbeitete, als versuchte sie, sich komplizierte Gedanken aus dem Kopf zu hämmern. Ihre erste Sorge war gewesen, Hodan vor lüsternen Jungen zu bewahren, diesen Streunern, die noch vom anderen Ende der Stadt Schwäche und Verletzlichkeit erschnüffeln konnten. Ihr Körper reifte schneller als ihr Verstand. Kawsar verstand allmählich, warum die Araberinnern in Mogadischu ihre Töchter bis auf einen Sehschlitz ganz verhüllten. Das Schwarz war ein Kokon, bis die Mädchen bereit für die lüsternen Augen der Männer waren. Hodan wirkte immer noch viel zu jung; die Brüste sahen auf dem schmalen Brustkorb lächerlich aus, und sie hatte die braun verschmierten Zähne eines Kindes, das die Finger nicht von der Keksdose lassen kann. Es würde noch zehn Jahre dauern, bis sie einer erwachsenen Frau ähnelte, aber trotzdem lungerten nach Schulschluss Jungen in Schuluniformen um das Bungalowtor herum, wollten durch die Fenster einen Blick auf Hodan erhaschen. Eines Tages verlor Kawsar die Fassung und warf einen Schuh nach einem
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