Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
könne, nur um sich dann zu wundern, dass die reifen, prallen Früchte einfach dort verrotteten, wo sie heruntergefallen waren. Ihr Garten war ein Farbfleck, den man vom Himmel aus sehen konnte; er parfümierte die
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und schickte in der October Road seinen Duft von Haus zu Haus. Als sie dann auch noch außerhalb ihres Grundstücks und am vermüllten Straßenrand vor ihrem Haus jätete, grub, säte und bewässerte, hatte Dahabo sie nach drinnen gezerrt, aufs Bett gedrückt und gesagt, es sei Zeit, damit aufzuhören.
Jetzt noch erinnert ein Kreis feuerroter Blumen um die Außenmauern an diese Zeit. Ihr Garten ist ein Orientierungspunkt auf dem Stadtplan, das überdachte Gässchen daneben ist beliebt für spätnächtliche Stelldicheins. Der Garten markiert den Mittelpunkt von Guryo Samo,das Herz, von dem aus die Straßenarterien zu den Extremitäten der Nachbarschaft führen. Welche geheimnisvollen Tiere wohl um diese Stunde durch sein Unterholz schnuppern? Nie hat sie sich spätnachts darin aufgehalten, und bei der Erkenntnis, dass sie das nun auch niemals mehr tun wird, durchfährt Kawsar ein stechender Schmerz. Sie könnte Nurto wecken und ihr befehlen, sie solle sie nach draußen tragen, aber darin läge keine Freude: Dort muss man allein sein und Muße haben, um zu beobachten, wie sich die Nachtblüher langsam öffnen, und inmitten von Eulen, Hunden und Zikaden dem raschelnden Gras lauschen. Sie wird warten müssen, bis dieses Entzücken direkt durch die Erde in ihre Knochen dringt.
Die Regenfälle haben ihr Letztes gegeben, und nun kommt
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, die unerbittliche Trockenzeit, die von Dezember bis März dauert. Durch die Straßen von Hargeisa schickt sie lediglich Sandteufel, aber für die Nomaden kommt jetzt die Zeit des Dürstens und des Leidens. 1987 geht allmählich seinem Ende entgegen, und das neue Jahr gleitet herein, grau und leblos wie die zensierten Hörspielkomödien im Radio. Jeden Abend betet Kawsar, Oodweyne möge vor Morgengrauen sterben und ihr eigenes Blatt dann ebenfalls sacht abfallen. Aber jeden Morgen ist er noch am Leben, weder sein hohes Alter noch ihre Verwünschungen können ihm offensichtlich etwas anhaben.
Wochenlang hat sie Dahabo nicht gesehen, aber immer noch ignoriert Kawsar hartnäckig ihr Klopfen. Manchmal hört sie Dahabos Stimme im Hof, wenn sie Nurto auf ihrem Rückweg vom Markt auflauert und die beiden dann verschwörerisch flüstern; gelegentlich schmuggelt Nurto etwas zu ihr nach draußen und streitet es hinterher ab. Dahabo nicht wiederzusehen ist leichter, als sie zu sehen, zu berühren, mit ihr zu sprechen, im Wissen, dass sie bald fort sein wird. Die prophezeite Belagerung der Stadt steht noch aus, aber Nurto erzählt, dass Dahabo ihren Marktstand geschlossen und ihr Haus verkauft hat. In Bezug auf Dahabo ist Kawsar eifersüchtiger und besitzergreifender, als sie das je gegenüber ihrem Mann gewesen ist; sie möchte wieder mit ihr über den Markt streifen können, Hand in Hand, gemeinsam sicher aufdie andere Straßenseite gelangen. Wenn das nicht geht, wird sie Dahabo dafür, dass sie sie im Stich lässt, so viel Schmerz zufügen, wie sie nur vermag.
Kawsar hat Nurto auf den Markt geschickt, sie soll neue Kleider nähen lassen, und während sie auf ihre Rückkehr wartet, starrt Kawsar auf ihre Hände, fragt sich, warum es so lange her ist, dass sie ihnen etwas zu tun gegeben hat. Um die ihr noch verbleibenden Minuten, Stunden, Tage, Wochen und Monate zu füllen, könnte sie doch immerhin stricken, nähen oder weben. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie sie ein indigofarbenes Baumwollquadrat nimmt und im Perlstich mit Silberfaden eine Nachtlandschaft entwirft, in der Mitte ein fast voller Mond, der von Wolkenschatten verdunkelt wird. Stimmengewirr und Schritte auf der Straße schrecken sie aus ihren Gedanken auf, sie hört, wie Maryam English ruft: «Komm jetzt her … Gut, dann warte nur, was passiert, wenn du zurückkommst!»
Der Krawall verebbt allmählich, und Kawsar reckt sich zum Fenster hoch und schreit: «Maryam, was brüllst du denn so?»
Kurzes Schweigen, dann drückt eine zerzauste und bekümmerte Maryam die Tür auf. «Mein dummer Sohn ist mit den anderen weg.»
«Wohin?»
Maryam seufzt. «Zum Theater. Die Guddi haben alle Nachbarn aufgefordert zuzusehen, wie ein paar armen Männern, die von den Soldaten gefangen genommen wurden, der Prozess gemacht wird.»
«So etwas findet jetzt also im Theater statt?»
Maryam lacht höhnisch.
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