Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
seiner Rolle abspult: Hunde, Ziegen, Säuglinge mit nacktem Hintern, die sprachlosen Komparsen des Lebens tauchen in ihrem Türrahmen auf und verschmelzen wieder mit der Welt draußen.
Aus dem Fenster gegenüber der Videohalle hört sie manchmal die älteren Kinder aus der Nachbarschaft leise miteinander reden, in gebrauchten
whodead
-Kleidern spielen die jüngeren Geschwister die Dramen nach, die ihre Eltern vor ihnen zu verbergen suchen. Als sie noch gehen konnte, hatte Kawsar ein Mädchen im Overall beobachtet, das einen Cowboy verhaftete, während eine Brautjungfer und eine winzige Krankenschwester ihr Befehle zubrüllten, Stöcke wie Pistolen auf den Bösewicht gerichtet. In Zahras kleinem Kino sehen sich die Kinder für zehn Schilling Videos an, kommen anschließend herausgepurzelt und ahmen die Gesten und die Gesichtsakrobatik von Amitabh Bachchan nach oder teilen bei Bruce Lee abgekupferte Karateschläge aus. Kawsar kann sie jetzt hören, Jungen und Mädchen mit verschrammten Knien, die die Rettung ihrer Onkel aus dem Mandera-Gefängnis organisieren, Raubüberfälle auf die Midland Bank planen, damit ihre Eltern ihre Steuern zahlen können, und den Polizisten, die ihre Elternhäuser plündern, Rache schwören. Im NFM wimmelt es nur so von älteren Ausgaben dieser Kinder, die in Kofferräumen versteckt die Stadt verlassen, wenn Stöcke als Ersatz für Gewehre nicht mehr ausreichen. Kawsar versteht das ganze Land nicht mehr – Polizistinnen sind zu Folterknechten geworden, Tierärzte zu Ärzten, Lehrer zu Spionen, Kinder zu bewaffneten Rebellen.
Nurto ist im Bad; dass sie der Demonstration ferngeblieben ist, verschafft ihr einen Morgen frei von Pflichten, und bislang hat sie ihn dazu genutzt, sich die Nägel zu lackieren und ihre Haare mit Henna zu färben.
Die vier Wände von Kawsars Zimmer scheinen jeden Tag etwas näher zu rücken. Durch die Löcher im Dach rinnt Regenwasser an der blauen Farbe herunter und hinterlässt Geistertränen, als betrauerte das Haus alle Tode, dessen Zeuge es gewesen ist. Zuerst hatte sich ihreMutter zu einem Knäuel voller Schmerzen zusammengerollt und war binnen weniger Tage nach dem Auszug aus ihrem eigenen Bungalow stumm und hilflos geworden und mit zusammengekniffenen Augen gestorben, als hätte sie sich den Tod herbeigewünscht. Farah war im erhabenen Alter von fünfundfünfzig gestorben, wenige Stunden, nachdem er über Brustschmerzen geklagt hatte, zu rasch, als dass der Arzt, der noch seine Schicht im Krankenhaus beenden musste, ihn hätte behandeln können; Schweiß strömte ihm über Gesicht und Rücken, er griff sich ans Herz, umklammerte seinen Arm und bettelte um Wasser, Tasse um Tasse. Hodan hatte diese Tode miterlebt, ihre riesigen Augen hatten jede Einzelheit aufgenommen, während sie sich um Kawsars Beine herumdrückte und sie hin und wieder umklammerte, als wollte sie sagen, «sei stark,
Hooyo
, sei stark». Kawsar war stark gewesen, aber dann hatte ihr Kind ein Messer genommen und sie entkernt.
In den Schock, als Kawsar in einem leeren Haus aufwachte und Hodan weder im Garten noch im Hof finden konnte, mischte sich Erleichterung, als ihr einfiel, dass es eine Welt jenseits ihrer Grundstücksmauern gab. Frohgemut wartete sie bis zur Mittagszeit, Hodan war wohl auf den Markt gegangen, um Lebensmittel einzukaufen. Als die Sonne ihren Zenit überschritt und allmählich sank, sank auch Kawsars Stimmung. Ob sie Hodan gesehen hätten, fragte sie die Nachbarn, aber die wussten nichts von ihrem Verbleib; sie rannte zu Dahabos Marktstand, vielleicht hatte Hodan die Freundin besucht, aber Kawsar wurde enttäuscht. Wieder zu Hause riss sie den Schrank auf und stellte fest, dass zusammen mit einer Reisetasche ein paar von Hodans Kleidern verschwunden waren, und ihr wurde klar, die hereinbrechende Nacht würde sie allein verbringen. Am selben Abend begleitete Dahabo sie auf das Polizeirevier, um Hodan als vermisst zu melden, und versicherte ihr dabei ständig, dass ihre Tochter bestimmt am nächsten Morgen wieder zu Hause sein würde. Die ganze klare Vollmondnacht über hatte Kawsar gewartet, auf Schritte lauschend, bis die Sonne Neonlichter in den Latten der Fensterläden aufblitzen ließ.
Zweiundneunzig Tage lang blieb Hodan fort. Sie erzählte wederKawsar noch sonst jemandem, wo sie gewesen war, was sie erlebt hatte, aber zwei Wochen später nahm sie einen Kanister Benzin und eine Streichholzschachtel mit ins Bad und zündete sich an. Den kahlen Kopf, die marmorierte
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