Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Haut und den grinsenden Totenschädel, Kawsar wird diesen Anblick nie vergessen. Voller Wut hatte sie diese Mumie begraben, als deren verfluchte, klappernde Augenlider endlich Ruhe gaben. Welche Sünde hatte sie begangen, dass sie eine derartige Strafe verdiente? Selbst wenn Hodan eine Hure geworden wäre, die ihren Körper auf der Straße verkaufte, hätte die Demütigung nicht größer sein können. Erst Jahre später erfuhr Kawsar, dass junge Mädchen das heutzutage wohl häufiger taten, sich in Waschräumen und Höfen abfackelten, ehe ihr Leben überhaupt erst begonnen hatte. Sie hatte Hodans sämtliche Kleider und Habseligkeiten weggegeben; der Großteil des Goldschmucks, den Kawsar für die Hochzeit ihrer Tochter gesammelt hatte, wurde verkauft, das Geld dem Waisenhaus gespendet. Die Laken, die immer noch nach Hodans Körpermilch dufteten, wurden ausrangiert und ersetzt. Im Laufe der Monate baute sich ihre Wut langsam ab, verschwand aber nie völlig und glühte weiter wie Kohlen in ihr.
Langsam erwacht Kawsar aus ihrem Tablettenschlummer und versucht, anhand von Nurtos Tagesablauf die Zeit zu bestimmen. Im Haus ist es still, bis das Mädchen die Tür, die vom Garten in die Küche führt, aufstößt und die Einkäufe zu Boden plumpsen lässt. Kawsar lauscht den eiligen Schritten Richtung Bad, dann rauscht Wasser, und Rohre klopfen, als es sich seinen Weg vom Tank in den Hahn bahnt. Später taucht Nurto in ein Handtuch gehüllt auf, Wasser tropft ihr von der Nase, rinnt ihr aus den Ohren, und sie zittert unkontrolliert.
«Wickel dich richtig ein.» Kawsar wirft ihr eine Decke zu.
Nurto knetet die Decke, hält sie sich vor die Brust. «Sie …», sagt sie mit klappernden Zähnen.
«Wer?»
«Die Soldaten … alle haben sie gesehen … damit jeder sie sehen konnte.»
«Was willst du damit sagen? Wer hat dir wehgetan?», schreit Kawsarund sieht vor ihrem geistigen Auge, wie man auf der Straße Nurto die Kleider vom Leib reißt.
«Mir hat niemand wehgetan. Mir nicht. Den Nomaden.»
Kawsar sinkt auf ihre Kissen zurück. «In der Stadt?»
«Sie haben am Markt acht tote Männer vom Wagen geworfen, ich habe einen gesehen, dem hingen die Eingeweide aus dem Bauch.» Nurto sieht aus, als wollte sie sich übergeben, und kauert sich auf ihrer Matratze zusammen.
«Hat niemand die Leichen abgeholt?»
Nurto schüttelt den Kopf.
Kawsar kann sich die Frauen und Mütter der Nomaden vorstellen, wie sie verzweifelt nach ihren Liebsten suchen, zuerst die Nachbarn fragen, dann Bekannte und schließlich die Polizei. Aber was für Entfernungen müssen die Frauen überwinden? Ihre kleinen Behausungen sind nur von Bergen und Steinen umgeben, jeder
reer
, jeder Haushalt, ist ein eigener Planet. Früher traf sie im Minibus zum Souk hin und wieder die Männer, die sorgfältig die Schillinge für die Fahrt abzählten und dabei einen Stolz verströmten, den die Städter verloren hatten. Die alten, häufig adlergesichtigen Männer mit den Turbanen hielten sich aufrecht, die Gewänder flossen über ihre schmalen Knochen; sie mussten sich nicht mit den Guddi, der Ausgangssperre herumschlagen, wurden nicht zu Paraden gezwungen, aber jetzt hat das Regime auch sie im Visier.
«Ruh dich aus, streich den Vorfall aus deinem Gedächtnis», beschwichtigt Kawsar. Jeden Tag gibt es neue Ausschreitungen, und Nurtos Reaktion ängstigt sie.
Eine Stunde später schickt Kawsar das Mädchen hinüber zu Zahras Videohalle, damit sie sich zur Ablenkung einen Hindi-Film ansieht. Sie sitzt im Bett und verschafft sich Kühlung mit einem schwarzen Lackfächer, den Farah ihr einmal geschenkt hat, und einzelne Strähnen ihres dünnen Haars tanzen im Luftzug. Draußen steht die schwere Luft, ist mit Elektrizität aufgeladen. Die Hauptregenzeit ist im Anmarsch, hat sich von den Regenwäldern des Kongo über das äthiopische Hochland verspätet auf den Weg ins verdorrte, versengte Somalia gemacht. DieSonne hat sich hinter den violetten Wolken verkrochen, aber ihre Hitze lässt Kawsar immer noch den Schweiß über die faltige Haut rinnen.
Bisher sind es halbherzige Regenschauer gewesen. Kaum haben sie eingesetzt, haben sie sich auch schon wieder verzogen; wenn die richtige Regenzeit kommt, sind es unablässige Güsse, die durchs Dach strömen und die Straßen überfluten, bis es so aussieht, als trieben die Bungalows auf hoher See. Sie sind die Manifestation eines ganzen Jahrs der Gebete, eine Sintflut, wie sie die Nomaden wünschen. Nur ein derart brutales Land
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