Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
wohl alles herausgerissen werden müsste, wollte man es loswerden.
Plötzlich ist das Signal von Radio NFM stärker, die Stimmen klar in der Nachtluft zu vernehmen, es sind keine Geister mehr, die aus einer jenseitigen Welt sprechen, ihr zackiger Hargeisa-Dialekt klingt klar und selbstbewusst. Kawsar dreht leiser, bis die Stimmen kaum mehr zu hören sind. Nurto trägt eines von Kawsars alten geblümten Nachthemden, ein züchtiges, langärmliges Etwas, das im Gegenlicht völlig durchsichtig wird; Farah hatte es ihr gekauft, und Kawsar stellt sich vor, wie sein Blick ihren Körper verschlang, so, wie ihr Blick nun Nurtos Körper mustert.
Abends herrscht jetzt eine andere Stimmung; sie sind eher Zimmergenossinnen, statt Herrin und Dienerin. Sie fühlen sich wohl mit den Gerüchen und Gewohnheiten der anderen, drehen einander nicht mehr den Rücken zu. Sie erproben kleine Intimitäten, versuchen die Kluft zu überbrücken, die sich zwischen ihrem Alter und ihren Lebensumständen auftut. Kawsar will unbedingt wissen, ob sie demnächst heiraten will. Nurto wirkt bereit, hat die kleinen Pickel, die heranwachsende Mädchen bekommen, wenn ihr Körper reif für die Liebe ist, und ihre nächtlichen Seufzer sind schwer von Einsamkeit.
«Hast du was von deinem amerikanischen Freund gehört?», fragt Kawsar, nachdem sich das Radioprogramm in statisches Rauschen aufgelöst hat.
«Nein, er ist in Saba’ad und fotografiert die Flüchtlinge. Ich hab ihn seit Wochen nicht mehr gesehen.»
«Bist du an ihm interessiert?»
Nurto wendet das Gesicht ab. «Ich glaube nicht, dass er es ernst meint.»
«Er wird in sein Heimatland zurückgehen, du solltest ihn nicht zu nah an dich ranlassen. Mit einem, der deine Sprache spricht, der aus deiner Kultur stammt, bist du besser dran.»
«Wie war dein Mann denn so?»
«Klug, groß, dickköpfig, ehrlich, wollte immer was lernen …»
Nurto fällt ihr ins Wort. «War er reich?»
«Er arbeitete hart und wurde reich, diese Schränke sind voll mit den Kleidern, die er mir gekauft hat.»
«Hm. Genauso stelle ich mir mein Leben vor.»
«Eine Zeit lang ist es tatsächlich sehr nett, aber Einkaufen kann ja wohl nicht alles im Leben sein.»
«Die Frauen im Souk, denen die Dienstmädchen die Taschen hinterhertragen, kommen mir ziemlich glücklich vor.»
«Und garantiert erzählen sie einem von der Eifersucht auf die Zweitfrau oder von ihrer Sorge, dass sie ihrem Mann nie einen Sohn gebären werden.»
«Das kann einem auch passieren, wenn man arm wie Schlamm ist. Ich hätte lieber diese Sorgen und Geld in der Tasche als zehn Söhne, die ich nur mit Schwarztee füttern kann.»
«Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, Gott hört immer zu, und er wird dich prüfen.»
«Er soll mich mit Geld prüfen, das ist eine Prüfung, der ich mich gerne unterziehen würde.»
«Gab es bei euch zu Hause nur Schwarztee?»
«Manchmal, wenn Mutter krank war. Es ist besser geworden, seit wir alle von der Schule abgegangen sind und angefangen haben zu arbeiten.»
Diese Art von Leben hat Kawsar nie kennengelernt. Der einzige Hunger, der je in ihr nagte, war selbst verursacht, wenn sie sich einfach statt aufs Essen auf andere Dinge konzentrierte; sie genoss die angenehme Benommenheit, die sie bei leerem Magen erfüllte, aber vielleicht lag ein Teil des Reizes auch in dem Wissen, dass nur ein paar Schritte entfernteine wohlgefüllte Speisekammer lag. Von Kindheit an war ihr das Essen jeden Tag stets zur gleichen Zeit aufgetischt worden, um ihre Aufmerksamkeit zu beanspruchen, und dickköpfig hatte sie gegen diese Tyrannei der Mahlzeiten angekämpft. Sie aß, was sie wollte und wann sie wollte. Wenn die Straßenjungen an der Tür ihrer Mutter bettelten, pflegte Kawsar ihren Teller nach draußen zu tragen und ihnen das Essen anzubieten, als könnte
sie
allein von Luft und Liebe leben.
«Wie ist dein
Aabbo
gestorben?», fragt sie Nurto.
«Wie stirbt man schon? Er ist krank geworden und ein paar Tage später in seinem Bett gestorben.»
«Und von da an bist du nicht mehr zur Schule gegangen?»
«Nein, wir sind noch eine Weile hingegangen, aber dann konnte
Hooyo
nicht mehr.»
Kawsar hat eine Idee, es ist, als hätte der Himmel aufgeklart. «Nurto, wenn du zur Schule gehen willst, kann ich dir helfen.»
«O nein …»
«Oder es könnte jemand herkommen und dich hier unterrichten. Du hast tagsüber viel zu viel freie Zeit, und du solltest etwas damit anfangen.»
«Mit der Schule bin ich durch. Ich kann so viel lesen,
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