Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
die Möglichkeit zu einer Beziehung mit Captain Yasin ergeben sollte, wird sie sich nicht dagegen wehren. Sie versucht, den Begriff «letzte Chance» zu vermeiden, aber er nistet sich gänzlich ungebeten in ihrem Kopf ein.
Sie nimmt den Machiavelli in die Hand, und ein Stück Papier flattert heraus, die blau linierte Seite eines Notizbuchs. Sie hebt es vom Boden auf und erkennt ihre eigene Handschrift.
Liebe Hooyo
, steht da – sie hat den Brief im Bus nach Hargeisa geschrieben, in der Hoffnung, da sie nun weit entfernt von ihrem Vater ein eigenes, unabhängiges Leben führt, könne sie auch mit ihrer Mutter neu beginnen –,
ich bin befördert und nach Hargeisa versetzt worden, und freue mich darauf, das Leben der Menschen im Nordteil des Landes kennenzulernen
.
Filsan sind ihre Worte peinlich; sie stellt sich vor, wie ihre Mutter darüber lacht und ausruft: «Und wen, glaubt sie, interessiert das?»
Ich habe oft an Dich gedacht und mich gefragt, ob es nicht an der Zeit ist, dass wir anders miteinander umgehen. Ich weiß, dass Dein Leben nicht einfach gewesen ist; Du glaubst zwar, meines wäre einfach
gewesen, aber das ist nicht der Fall. Auf meine Weise habe ich gelitten und den Preis für eure Scheidung bezahlt
. Hier hört der Brief auf, genau an der Stelle, an der Anschuldigungen gekommen wären. Filsan erinnert sich, wie sie ihn in das Buch geschoben hat, ihn unter ruhigeren Umständen beenden wollte. Sie schnappt sich aus ihrer Schublade einen Stift und legt den Brief auf das Lehrbuch; behandelt ihn wie eine Aufgabe, listet die relevanten Punkte zuerst auf:
–
Du hast Aabbo freiwillig geheiratet
–
Du hast ihn für einen anderen Mann verlassen
–
Du hast aus Deinem Leben nichts gemacht, sondern nur immer nur auf Kosten Deiner Ehemänner gelebt
–
Es sollte Dich nicht wundern, dass ich nach meinem Vater komme, warst Du doch es doch, die mich bei ihm zurückgelassen hat
–
Ich bin bereit, Dir zu vergeben
–
Ich werde Deine Kinder bei ihrer Ausbildung unterstützen
–
Wenn ich Dich besuche, möchte ich nicht über Aabbo reden
–
Wenn ich Dich besuche, möchte ich überhaupt nicht über die Vergangenheit reden
Vor vier Jahren haben sie sich zum letzten Mal gesehen. Filsan hatte einen Bus in den Wardhigley-Bezirk genommen. Nichts hatte sich verändert, das Haus war immer noch dreckig, vollgestopft mit den Früchten zweier gescheiterter Ehen. Auf der Sitzfläche ihres Stuhls konnte Filsan Krümel spüren, alle Oberflächen waren klebrig und Kinder sabberten ihr über Knie und Hände. Es war verstörend, zu sehen, wie ihr eigenes Spiegelbild – älter, dicker, aber immer noch erkennbar – unter diesen Bedingungen lebte. Nachdem sie ihr ein Glas Orangenlimonade und einen Teller Kekse hingestellt hatte, zog sich ihre Mutter mit einer Nachbarin in die Küche zurück, aber ihre Stimme drang zu ihr: «Seine Geisel sieht mich genauso an wie er», «Man hätte doch annehmen können, dass sie Geld mitbringt», «Sie sieht nicht aus, als würde sie mal heiraten, ein Gesicht wie ein Schuh.»
«Seine Geisel», so hatte ihre Mutter sie immer genannt. Filsans Vaterhatte sich von ihr nur unter der Bedingung scheiden lassen, dass sie ihm das Kind überließ, das Kind verließ. Sie hatte seine Bedingung akzeptiert, aber von da an war Filsan ihr Ogaden geworden, ihr kleines umkämpftes Stück Erde. Abordnungen der Clanältesten besuchten erst das eine und dann das andere Haus, versuchten, Zutritt, Kompromisse auszuhandeln, tranken Tee und hielten moralische Vorträge. Ihr Vater war nicht umzustimmen; von dem Zeitpunkt an, als Filsan fünf war, bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr, gehörte sie ihm allein. Aber als sie älter wurde und allmählich in Gesicht und Körper ihrer Mutter zu ähneln begann, schickte er sie immer wieder tagelang in dieses schmutzige Lehmziegelhaus. Der Blick, mit dem er sie betrachtete, wurde hart, er umarmte sie nicht mehr, ertrug ihre Nähe nicht mehr. Sie gehörte nicht mehr zu ihm und somit niemandem.
Sie übermalt ihre Liste; es ist einfacher, ihre Mutter der Vergangenheit zu überlassen, diese Wunde, die zum größten Teil verheilt ist, daran herumzuzupfen bringt nichts.
Am nächsten Morgen liegt eine in Goldpapier eingewickelte Süßigkeit auf ihrem Schreibtisch. Captain Yasin sieht nicht auf, hackt mit ungelenken Fingern auf eine Schreibmaschine ein. Filsan unterdrückt ein Lächeln und setzt sich, widersteht dem Drang, ihn zu fragen, was ihn denn so pünktlich zur Arbeit
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