Der Gastprofessor
Wissenschaftlern und Gastdozenten am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung, wenn Er sich am brennenden Busch Moses zu erkennen gibt?«
Lemuel, der sein mit der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force erlerntes Englisch anhand der King James Bible, der Romane von Raymond Chandler und des Playboys aufgebessert hat, erinnert sich, wie Jahwes Antwort an Moses in der King James Bible übersetzt ist. »Ich bin, der ich bin.«
»Ha! Die hebräische Schreibweise von Jahwe istyodhehuavheh, und das ist von der Wurzel des Verbs ›sein‹ abgeleitet. Was Jahwe am brennenden Busch zu Moses sagt – ehieh ascher ehieh, das ist das Futur des Verbs ›sein‹ –, ist ein Wortspiel mit Seinem Namen.« Nachman ereifert sich immer mehr. »Jahwes Antwort sollte man also vielleicht mit ›Ich werde sein, der ich sein werde‹ übersetzen. Ich persönlich finde, das kann nur ›Ich werde sein, wann und wo ich sein werde‹ bedeuten. Also wer ist dieser Jahwe, der sich nicht auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort festlegen will? Ich sage Ihnen, wer Er ist. Er ist die Inkarnation der Zufälligkeit. Und was ist Zufälligkeit – wie haben Sie es doch in Ihrem Aufsatz über Entropie ausgedrückt? –, was ist Zufälligkeit anderes als ein Fußabdruck des Chaos? Was sagt es uns über Gott den Herrn, daß Er ein von den Gesetzen des Chaos gelenktes Universum erschaffen und es mit uns bevölkert hat?«
Der Rebbe schlägt die Beine andersrum übereinander. Für einen Moment sieht Lemuel einen Streifen blasse, unbehaarte Haut über den hohen Schnürschuhen aufschimmern. »Ha! Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels soll Rebbe Judah ha-Nasi, er ruhe in Frieden, gefragt haben: ›Wenn Gott den Menschen wirklich liebte, hätte Er ihn dann erschaffen?‹« Der Rebbe zupft an seinem Bart und schaukelt in einer Art Delirium vor und zurück. »Das ist nicht nur eine gute Frage, es ist vielleicht die einzige Frage überhaupt.« Er zuckt zusammen und legt die Hände an die Schläfen. »Oj, um mit dem berühmten Rebbe Akiba zu sprechen: Mir dreht sich der Kopf von den vielen Fragen ohne Antworten.«
»Ihnen dreht sich der Kopf von dem vielen Marihuana.« Lemuel beugt sich vor. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Nein, aber das gibt sich wieder. Vielleicht kennen Sie das jüdische Sprichwort: Wenn du Fragen ohne Antworten vergessen willst, zieh einen zu engen Schuh an.« Die hervortretenden Augen des Rebbes klappen auf und richten sich auf Lemuel. »Glauben Sie ja nicht, Sie könnten einen Rebbe nach seinem Äußeren beurteilen.« Er läßt sich in seinen Stuhl zurücksinken. Langsam schließen sich seine Lider. Als er wieder etwas sagt, ist sein Singsang kaum hörbar. »Vielleicht kennen Sie die Geschichte – der berühmte Vorker Rebbe, er ruhe in Frieden, hat gesagt, man könne einen Erleuchteten an drei Dingen erkennen.« Rebbe Nachman macht eine Faust und streckt bei jedem Punkt einen Finger. »Erstens: Er weint, ohne ein Geräusch zu machen. Zweitens: Er tanzt, ohne sich zu bewegen. Drittens: Er verbeugt sich, ohne den Kopf zu neigen.«
Nachmans Faust fällt auf den Tisch zurück, sein Kopf nickt nach vorne, der Joint entgleitet seinen Fingern. Lemuel nimmt ihn rasch von der Börsenseite und führt ihn unter seiner Nase durch wie eine Havanna. Er ist versucht, dem Beispiel des Rebbes zu folgen und sich der Welt des Chaos aus einer anderen Richtung zu nähern. Doch dann findet er, daß er für diesen Tag sein Quantum Chaos weghat, und drückt den Joint in einem Aschenbecher aus, der den Namen des Hotels trägt, in dem er geklaut wurde.
Er zieht die Schuhe aus, schaut noch einmal auf den gnostischen Chaotiker zurück, der unruhig schnarchend in seinem Sessel sitzt, und tappt leise aus dem Zimmer.
Wie jeder Schlaflose habe ich gelernt, mit der Nacht etwas anzufangen. Als Sankt Petersburg noch Leningrad war, ging ich immer bis zum Morgengrauen in meinem Zimmer auf und ab, sann über die Weiße der Nacht nach, kritzelte Differentialgleichungen auf die Rückseite von Briefumschlagen, quadrierte Kreise und verfolgte die schwer auszumachenden Spuren der Zufälligkeit zurück bis zu ihren chaotischen Ursprüngen, in der vagen Hoffnung, irgendwann doch einmal auf ein Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit zu stoßen, wenigstens eines – ein einziges hätte mir schon gereicht.
In diesen schlaflosen Nächten hatte ich einige meiner phantasievolleren Einfälle über vom Menschen geschaffene
Weitere Kostenlose Bücher