Der Gastprofessor
zählebig. Am Steklow-Institut für Mathematik waren Institutsessen, vor allem solche mit Gästen aus dem Ausland, gute Gelegenheiten, Zwiebelbrötchen, Kaviar in Dosen und Halbliterflaschen polnischen Wodkas zu stehlen. Lemuel hat alle Hoffnung fahrenlassen, sich eine der Weinkaraffen aneignen zu können, weil die bestimmt vor und nach dem Essen gezählt werden. Aber sein Sinnen und Trachten ist daraufgerichtet, das übriggebliebene Sesambrötchen von dem Teller vor ihm in seinen Aktenkoffer umzubetten.
Aber wie soll er das anstellen, wenn aller Augen auf ihn gerichtet sind?
Der Applaus verebbt. Die Gäste lassen sich wieder auf ihren Stühlen nieder. Am oberen Ende der Klammer gibt sich Lemuel einen Ruck und kommt auf die Füße. Er rückt seine Brille zurecht, läßt den Blick über die dreiteiligen Anzüge, die Sportsakkos mit Wildlederflecken an den Ellbogen, die Kugelbäuche, die Bifokalbrillen, die Halb- und Vollglatzen und die Daumen schweifen, die Tabak in Pfeifenköpfen festdrücken. Er nickt mehreren Professoren des Instituts zu, die er von internationalen Symposien kennt. Er sieht, daß Rebbe Nachman ihm aufmunternd zulächelt.
»Ich kann zu Ihnen sagen.« hebt Lemuel an.
»Geht’s bitte etwas lauter, Professor?« ruft jemand vom anderen Ende der Tafel.
Lemuel räuspert sich. »Ich kann zu Ihnen sagen, auch wenn Sie es vielleicht nicht hören wollen«, setzt er mit kräftigerer Stimme erneut an, »daß ich mit mehr Fragen als Antworten versehen nach Backwater gekommen bin. Ich will Sie nicht mit den leichteren langweilen: Wie kann man sein Herz auf dem Ärmel tragen? Was kann eine Friseuse auf welchem Kasten haben? Was bedeutet ›Nonstops to the most Florida cities‹ wirklich? Wer bestimmt in Amerika, welche Seite oben ist? Ich möchte Ihnen nicht einmal mit der kniffligen Frage die Zeit stehlen, die Rebbe Nachman mir gestern abend gestellt hat, nämlich, wenn Gott den Menschen wirklich liebte, warum hat Er ihn dann erschaffen? Vielmehr werde ich mit Ihrer Erlaubnis gleich zu der Frage kommen, die mir Nacht für Nacht den Schlaf raubt.«
Lemuel überzeugt sich mit einem Blick auf den Teller, daß das Sesambrötchen noch da ist, und schaut dann wieder sein Publikum an. »Was ist das Chaos? Es ist schon oft definiert worden: als Ordnung ohne Periodizität, zum Beispiel; als scheinbar zufälliges wiederkehrendes Verhalten in deterministischen Systemen wie Meereswellen und Temperaturen, Börsenkursen, dem Wetter, der Fischpopulation in Teichen, dem Tropfen eines Wasserhahns. Ich möchte Ihnen zu bedenken geben, daß diese Definitionen nicht stichhaltig sind, ich möchte Ihnen eine andere Weise vorschlagen, das Chaos zu betrachten, nämlich diese: daß Systeme, die zu komplex für die klassische Mathematik sind, einfachen Gesetzen gehorchen. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben. Mit dem Rüstzeug der klassischen Mathematik können wir mehr oder weniger die langfristige Bewegung der rund fünfzig Himmelskörper im Sonnensystem berechnen. Aber der Versuch, die kurzfristige Bewegung der etwa hundert Billionen Teilchen in einem Milligramm Gas zu berechnen, übersteigt die Möglichkeiten des leistungsfähigsten Computers, um nicht zu sagen des brillantesten Programmierers. Dennoch können wir viel über die Bewegung der Gasteilchen in Erfahrung bringen, wenn wir begreifen, daß die unglaublich komplexe Welt in diesem Milligramm Gas einfachen Gesetzen gehorcht.«
Lemuels Mund ist auf einmal knochentrocken. Er trinkt einen Schluck Wasser. Als er wieder aufschaut, sieht er, daß die Gäste sich gespannt vorbeugen und an seinen Lippen hängen. Ermuntert redet er weiter. »Die Wissenschaft vom Chaos kann demzufolge als der Versuch gesehen werden, das Wesen der Komplexität zu begreifen. Meiner Ansicht nach sind die herkömmlichen Naturwissenschaften, also Physik, Chemie, Biologie und so weiter, zu Tendern geworden – zu Anhängern mit Brennstoff für die große Lokomotive, die wir als die Wissenschaft vom Chaos bezeichnen.« Ein Kichern geht durch seine Zuhörerschaft – jeder der Gäste war zu dieser oder jener Zeit schon einmal in Rains Tender. »Die einzige wahrhaft originelle und in manchen Fällen sogar brillante Arbeit wird heute von Chaostheoretikern geleistet, die gerade den Beweis dafür erbringen, daß komplexe Systeme einfachen Gesetzen gehorchen und sich dabei scheinbar unberechenbar verhalten. Was uns zu der Schlußfolgerung berechtigt« – Lemuel spricht jetzt sehr langsam, wählt die
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