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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Graphologe wurde hinzugezogen, und sie ließen mich laufen.«
    »Das muß doch verdammt gefährlich gewesen sein, als Antikommunist in einem kommunistischen Land zu leben«, bemerkt Rain.
    »In Rußland haben wir ein Sprichwort – es ist gefährlich, recht zu haben, wenn die Regierung im Unrecht ist.«
    Lemuel dreht sich um und sieht den Paaren im angrenzenden Raum zu. In dem Schummerlicht sieht es aus, als ob sie auf und ab hüpfen, die Köpfe zur Seite hängend, als hätten sie sich den Hals gebrochen. Er beugt sich näher zu Rain hin und schreit ihr ins Ohr: »Sieht aus.« Der Krach hört so abrupt auf, wie er begonnen hat. ». wie kollektiver Schluckauf«, hört er sich schreien. Er errötet.
    Die drei Musiker in einer Ecke des Raums stimmen einen Slowfox an. Shirley sinkt Dwayne in die Arme, und die beiden schleichen im Takt der Musik übers Parkett.
    »Hey, getanzt wird doch bestimmt auch in Rußland?« mutmaßt Rain. Lemuel spürt, wie ihr Atem ihm das Ohr wärmt. »Wie war’s, wollen wir.« Ihr Zeigefinger beschreibt einen Kreis.
    »Ich weiß nicht, ob ich weiß.« will Lemuel protestieren, aber Rain trinkt auf einen Sitz ihren Wein aus, läßt das leere Glas am Stiel baumeln, zieht Lemuel in den anderen Raum und schmiegt sich in seine Arme. Er spürt das Weinglas im Nacken, er spürt ihre Brüste an seiner Brust, er spürt ihre Schenkel an seinen Beinen und riecht ihren Lippenstift. Unwillkürlich kommt ihm das »Oj« des Rebbes von den Lippen.
    Rain drückt ihren Mund an sein Ohr. Es kitzelt richtig, wenn sie etwas sagt. »Die Geschichte mit den zwei Unterschriften – wann war das?« will sie wissen.
    »Vor acht Jahren.«
    »Ich kann mich an etwas erinnern, was sich vor dreiund zwanzig Jahren zugetragen hat«, sagt sie träge, »ich erinnere mich an meine Geburt.«
    »Das erfinden Sie doch, oder? Ich erinnere mich nicht einmal an meine Kindheit, hauptsächlich deshalb, weil ich keine hatte.«
    »Nein, ehrlich, ich erfinde das nicht. Ich war noch sehr jung bei meiner Geburt, aber wer ist das nicht? Trotzdem erinnere ich mich an jede Einzelheit. Ich erinnere mich an das feuchte Dunkel und dann die Kälte und das blendende Licht. Ich erinnere mich, daß mich jemand verkehrt herum gehalten und mir einen Klaps auf den Po gegeben hat. Soll ich Ihnen die schmutzigen Details beschreiben?«
    »Ein andermal vielleicht.«
    Sie schlurfen schweigend über die Tanzfläche. Nach einer Weile kitzelt ihn Rains Stimme wieder am Ohr. »Sie sind verheiratet?«
    »Ich war verheiratet. Ich bin geschieden.«
    »Wie oft waren Sie verliebt?«
    Lemuel möchte mit den Achseln zucken, aber es geht nicht so recht, weil Rain an seinen Schultern hängt. »Vielleicht einmal. Einmal. Ja, einmal.«
    »Klingt, als ob Sie sich nicht sicher sind.«
    »Doch, ich bin sicher. Ich war einmal verliebt.«
    »In Ihre Frau?«
    »Ich hab mich im Leningrader Hochzeitspalast eingefunden, um meinen Namen in das Buch unter dem Leninbild zu schreiben, weil der Vater meiner Braut Direktor des Steklow-Instituts für Mathematik war und ich alles dafür gegeben hätte, an diesem Institut arbeiten zu können. Außerdem hatte seine Tochter eine Sechzigquadratmeterwohnung ganz für sich allein.«
    »Aber in wen waren Sie dann verliebt, wenn nicht in Ihre Frau?«
    »In ein Mädchen.. Ich habe nie erfahren, wie sie hieß, nie mit ihr gesprochen.«
    »Sie haben mit ihr gebumst, stimmt’s?« Lemuel wirft verlegen den Kopf herum. »Das kapier ich nicht. Wenn Sie nie mit ihr gesprochen haben, wenn Sie nie mit ihr gebumst haben, dann ist es, auch wenn sie existiert hat, genauso, als hätte es sie nie gegeben. Sie war eine Ausgeburt Ihrer Phantasie.«
    »Sie war real«, beharrt Lemuel, aber Rain verfolgt ihren eigenen Gedankengang.
    »Ich versteh nicht, wie man Leidenschaft für jemand empfinden kann, den es gar nicht gibt.«
    Lemuel versucht, das Thema zu wechseln. »Ich nehme an, Sie waren schon oft verliebt.«
    Rain lacht. »Öfter als oft. Ich war schon ein paar dutzendmal kurzfristig verliebt. Vielleicht sogar ein paar hundertmal.«
    »Was heißt kurzfristig«?«
    »Dreißig Sekunden. Zwei Minuten. Zehn.«
    »Wieviel Zeit muß vergehen, bevor Ihre Liebesaffären ernst werden?«
    Rain ist gekränkt. »Die dreißig Sekunden oder zwei Minuten oder zehn ist es mir sehr ernst. Während ich liebe, bin ich verliebt.« Sie drückt ihren Minirock zwischen Lemuels Schenkel. »Und wenn ich verliebt bin, liebe ich im allgemeinen.«
    »Und wie wir’s mit einer Liebesaffäre,

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