Der Gastprofessor
Endstation.«
»Wir sind keine Chaostheoretiker«, klärt Matilda Birtwhistle ihre Kollegen auf, »sondern vielmehr Raumfahrer, die dazu verurteilt sind, bis in alle Ewigkeit ein unendliches Universum zu erkunden.«
Lemuel zuckt die Achseln. »Wir werden an eine Endstation kommen, wenn wir auch nur ein einziges Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit finden. In diesem Augenblick werden wir wissen, daß nicht alles unter der Sonne vorherbestimmt ist, daß der Mensch Herr seines Geschickes ist.«
»Und wenn es so etwas wie reine, unverfälschte Zufälligkeit nicht gibt?« entgegnet Matilda Birtwhistle. »Was dann?« Lemuel, der plötzlich erschöpft ist, murmelt: »Ihr alle seid Stockfische.«
»Lauter, bitte, Professor«, ruft jemand. Charlie Atwater rülpst in die vorgehaltene Faust. »Dasch ischt allesch scher deprimierend«, stöhnt er. »Ich brauche unbedingt wasch tschu trinken.«
Lange Zeit schauen die Gäste in ihre Kaffeetassen. Lemuels Kopf fährt mehrmals unsicher in die Höhe. Er schaut zum Direktor hin, der offenbar Zwiesprache mit sich selbst hält; dann läßt er sich so ungeschickt auf seinen Stuhl zurücksinken, daß er den Teller mit dem Sesambrötchen herunterwirft. Er bückt sich tief hinab, steckt das Brötchen in seinen Aktenkoffer und kommt mit dem leeren Teller wieder hoch.
Eine Studentin mit einem Tablett Pfefferminzplätzchen geht hinter ihm vorbei. Sie legt ihm eines auf seine Untertasse.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagt Lemuel. Das Mädchen lächelt gewinnend. »War mir ein Vergnügen«, erwidert sie kichernd.
»Wenigstens eine, die hier vergnügt ist.« Während er zusieht, wie seine Kollegen vom Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung ihre Stühle zurückschieben und sich allmählich von der Tisch-Klammer entfernen, fragt sich Lemuel, ob diese Vorstellung von einem endlosen Zyklus von Zufälligkeit und Chaos nicht bloß wieder einer seiner angenehmen Wachträume ist, etwas, was einen Teil von ihm zufriedenstellt, zu dem er noch nicht vorgedrungen ist.
Niedergeschlagen geht er hinaus und stößt beinah mit dem Rebbe zusammen. »Was habe ich falsch gemacht?« fragt er ihn. »Und was soll ich jetzt tun?«
Rebbe Nachman tanzt auf dem Eis, damit seine Zehen nicht taub werden. »Ein klugscheißender Goi hat einmal gelobt, sich zum Judentum zu bekehren, falls es dem berühmten Rebbe Hillel gelinge, ihm die ganze Thora in der Zeit auszulegen, die er, der Goi, auf einem Bein stehen könne. Rebbe Hillel war einverstanden, der Goi stellte sich auf ein Bein, und Rebbe Hillel sagte zu ihm: »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das ist die ganze Thora, der Rest ist Kommentar. Gehe hin und studiere.««
Rebbe Nachmans Lächeln wirkt noch schiefer als sonst. »Ich glaube nicht, daß Sie jemals Zufälligkeit entdecken werden, ich meine reine, unverfälschte Zufälligkeit, und zwar aus dem simplen Grund, daß es sie nicht gibt. Andererseits: Sie werden Sie bestimmt nicht finden, wenn Sie nicht danach suchen. Gehe hin und studiere.«
3. KAPITEL
»Ich war mit Handschellen an eine Filmkritikerin gefesselt, die ebenfalls die Petition unterschrieben hatte«, schreit Lemuel, um den Krach zu übertönen, den er nicht als Musik anerkennen will. »Ich habe gehört, daß sie drei Jahre in einem sibirischen Gulag war und zur Essenszeit Eiszapfen aus Milch gelutscht hat.«
»Und wie haben Sie Ihren Kopf aus der Schlinge gezogen?« ruft ein Verbindungsbruder, der zu Sakko und Krawatte einen Footballhelm trägt.
»Hey, genau, wie eigentlich?« erkundigt sich Rain und nimmt mit kokettem Lächeln einen Schluck Wein.
»Unser Lem hier hat die Petition unterschrieben, der Bulle hat ihn kassiert und zum Verhör geschleppt«, rekapituliert Dwayne, der Manager vom E-Z Mart, mit lauter Stimme, »aber sie haben ihn nicht angeklagt. Also muß er einen Kniff angewandt haben.«
»Einen Kniff?«
»Einen Trick«, erklärt Dwaynes Freundin Shirley. »Einen Schlich«, ergänzt Dwayne. »Eine Kriegslist.«
Lemuel lächelt säuerlich. »Ich habe in der Tat einen Kniff angewandt: ich hatte zwei Unterschriften«, schreit er. »Die eine war für meinen Personalausweis oder mein Soldbuch oder meine Anträge auf Erteilung eines Ausreisevisums. Die andere habe ich dort verwendet, wo es nützlich sein konnte, hinterher abzustreiten, daß es meine Unterschrift ist. Als ich endlich verhört wurde, sagte ich, jemand anderer hätte meine Unterschrift gefälscht. Ein
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