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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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bin, hab ich keinen Bock drauf, allein zu Hause zu hocken. Deswegen hab ich beschlossen, heute abend zu der Party zu gehen. Und deswegen macht’s mir nichts aus, wenn jemand, der den G-Punkt nicht kennt, mich begleitet. Zu der Party. Und hinterher nach Hause. Klar? Klar.
     
    Oliven mampfend, Martinis schlürfend, fachsimpelnd oder über die Börse und das Wetter redend, umkreisen die fünfzehn festangestellten Wissenschaftler zusammen mit dem Dutzend Gastdozenten und der Handvoll Fellows am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung die Tische im Speisesaal des Instituts, die die Form von zwei runden Klammern haben, und suchen nach ihren Namen auf den von Hand beschriebenen Tischkarten. Als sie ihre Plätze eingenommen haben, fangen Studentinnen mit adretten weißen Schürzchen an, aus Karaffen Wein einzuschenken. Der Direktor, J. Alfred Goodacre, packt Lemuel am Ellbogen und bugsiert ihn ans obere Ende der einen Klammer.
    »Gratuliere zu dem Haarschnitt«, flüstert er ihm zu. »Sie hat schon was auf dem Kasten, unser Tender.«
    Lemuel ist verwirrt. »Auf welchem Kasten hat sie was?« erkundigt er sich, aber der Direktor schüttelt gerade einem Gastprofessor aus Deutschland die Hand und überhört die Frage.
    Weiter unten am Tisch ist Matilda Birtwhistle ins Gespräch mit ihrem Nachbarn Charlie Atwater vertieft. »Früher wurde bei Institutsessen der Wein nie dekantiert«, bemerkt sie.
    »Die dekantieren ihn«, mutmaßt Atwater und nippt an seinem vierten Martini, »damit wir nicht merken, was für einen billigen Sauerampfer sie uns vorsetzen.« Er schnuppert an dem Wein in seinem Glas und verdreht angewidert die Augen.
    Matilda Birtwhistle muß lachen. »Ach, hören Sie auf, Charlie.«
    »Sie denken, ich übertreibe?« Atwater nimmt einen Schluck von dem Wein, spült sich damit den Mund aus, als ob er gurgeln wollte, und schluckt ihn dann runter. Die Augen fallen ihm fast aus dem Kopf. »Oh, mein Gott! Das ist Chateau Migrainel«
    Rebbe Nachman, der Matilda Birtwhistle gegenübersitzt und sein Weinglas am Stiel hält, schwenkt die Flüssigkeit behutsam im Glas und sieht dann zu, wie sie an den Seiten herabrinnt. »Wenn Sie ein unabhängiges Gutachten brauchen«, ruft er quer über den Tisch. »Mis en bouteille, wie wir auf jiddisch sagen, im Keller des E-Z Mart an der Main Street. Und anschließend st ihm der Transport nicht bekommen.« Er grinst schief, ruft » Bolschoi lechaim« und genehmigt sich einen kräftigen Schluck.
    Später, als die Studentinnen die Dessertteller abräumen und Kaffee und Pfefferminzplätzchen servieren – erhebt sich der Direktor und schlägt mit einem Löffel an sein Glas. »Meine Herren, meine Damen.« Die Gäste unterhalten sich so angeregt, daß sie nicht merken, daß der Direktor Aufmerksamkeit heischt. »Eingangs« – Goodacre hebt die Stimme – »möchte ich Sie alle herzlich willkommen heißen bei unserem Institutsessen.« Die Gäste verstummen nach und nach.
    »Lassen schie mich schagen«, flüstert Charlie Atwater, den Direktor nachäffend, seiner Tischnachbarin zu, »wie beeindruckt isch bin, so viele exzellente Forscher auf dem Gebiet der Chaoschtheorie in einem Raum verschammelt zu schehen.«
    »Lassen Sie mich sagen«, fährt Goodacre fort, »wie beeindruckt ich bin, so viele exzellente Forscher auf dem Gebiet der Chaostheorie in einem Raum versammelt zu sehen.« Matilda Birtwhistle kichert anerkennend. »Albert Einstein hat einmal gesagt«, spricht der Direktor weiter, »das Unbegreiflichste am Universum sei, daß es begreifbar ist. Es ist mir ein großes Vergnügen, in den Reihen des Instituts einen Mann begrüßen zu dürfen, der mehr als sein Teil dazu beigetragen hat, dieses Universum begreifbar zu machen. Ich brauche ihn nicht vorzustellen. Sie alle sind mit seinen Arbeiten über Entropie ebenso vertraut wie mit seiner Suche nach absoluter Zufälligkeit in der Dezimalentwicklung von Pi. Viele von uns sind der Meinung, wenn es einen Nobelpreis für Mathematik gäbe, hätte er ihn inzwischen gewiß erhalten, und zwar dafür, daß er die Grenzen der Zufälligkeit weit hinausgeschoben hat. Lassen Sie uns gemeinsam unseren Gastprofessor aus Sankt Petersburg begrüßen. Meine Damen, meine Herren: Lemuel Falk.«
    Die festangestellten Wissenschaftler, Gastdozenten und Fellows applaudieren stehend. Lemuel, den Kopf gesenkt, die Wangen gerötet, starrt auf seinen Aktenkoffer hinunter, der an einem Bein seines Stuhls lehnt. Alte Gewohnheiten sind

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