Der Gastprofessor
Worte mit Bedacht –, »daß deterministisches Chaos in den meisten Fällen die Erklärung für Zufälligkeit ist. Aber. ist es auch die Erklärung für jede Art von Zufälligkeit?«
Mehrere seiner Zuhörer stecken aufgeregt die Köpfe zusammen. »Was will er uns damit sagen?« begehrt der Gastprofessor aus Deutschland zu wissen.
»Er stellt die Theorie auf, daß das Chaos die zweite Geige nach der Zufälligkeit spielen sollte«, grollt sein Nachbar, ein Astrophysiker, bei dem es sich um eine Leihgabe des Massachusetts Institute of Technology handelt. Mehrere andere, die in Hörweite sitzen, nicken zustimmend.
Lemuel sieht den Rebbe direkt an. »Verzeihen Sie mir, Rebbe, wenn ich Ihnen sage, daß meine Frage für unser Verständnis vom Universum und von unserem Platz darin entscheidender ist als die, die Sie gestern abend aufgeworfen haben. Lassen Sie mich meine Frage anders formulieren. Wenn wir die scheinbare Zufälligkeit Schicht für Schicht abschälen, gelangen wir an eine Endstation, als die sich bis jetzt das Chaos erwiesen hat. Aber die eigentliche Suche beginnt erst. Liegt es nicht im Bereich des Möglichen, daß diese Endstation, das Chaos, in Wahrheit nur eine Zwischenstation ist? Und liegt es nicht gleichermaßen im Bereich des Möglichen, daß die wahre Endstation, der theoretische Horizont jenseits dessen es keinen weiteren Horizont gibt, die reine, unverfälschte, nichtchaotische Zufälligkeit ist?«
Ein ungehaltenes Brummen erfüllt den Raum. »Sie sind im Grunde gar kein Chaostheoretiker«, ruft Sebastian Skarr ihm zu. »Sie sind ein Zufallsforscher, der das Chaos für seine Zwecke mißbraucht.«
Der Rebbe stimmt ihm widerstrebend zu. »Im tiefsten Innern, das haben Sie gestern abend selbst zugegeben, lieben Sie das Chaos nicht.«
»Das Chaos ist nicht Gott«, verteidigt sich Lemuel. »Und auf jeden Fall bin ich ein Zufallsforscher, der ungewollt ins Chaos geraten ist.«
»Sie bekennen, ein Chaostheoretiker wider Willen zu sein«, schimpft der deutsche Professor. »Könnte es sein, daß Sie aus Versehen ans falsche Institut geraten sind?«
Der Rebbe wirft die Arme hoch. »Reine, unverfälschte Zufälligkeit gibt es nicht. Sie jagen einem Phantom nach.«
Lemuel ist bestürzt über den Sturm, den er entfacht hat. »Meine Sichtweise der reinen Zufälligkeit«, verteidigt er sich, »ist chaosbezogen.«
Matilda Birtwhistle hebt den Finger. »Gestatten Sie eine Frage, Professor?«
»Das führt ins Uferlose«, verkündet der Direktor. »Wir sind hier nicht in einer Arbeitssitzung.«
»Die Chaotiker werden chaotisch«, bemerkt Charlie Atwater süffisant.
»Bitte sehr«, sagt Lemuel zu Matilda Birtwhistle.
»Sie vertreten bekanntlich die These, daß jede Zufälligkeit eine Pseudo-Zufälligkeit und diese Pseudo-Zufälligkeit ein Fußabdruck des Chaos sei.«
»Bis jetzt hat sich das leider immer bewahrheitet«, stimmt Lemuel zu.
»Wenn ich Sie richtig verstehe«, fährt Birtwhistle fort, »wollen Sie damit sagen, das Chaos könne sich eines Tages als ein Fußabdruck der Zufälligkeit erweisen.«
»Reiner, unverfälschter Zufälligkeit«, korrigiert Lemuel.
»Reiner, unverfälschter Zufälligkeit, gewiß. Aber falls sich das als zutreffend herausstellt, wie geht’s dann weiter? Womöglich ist die reine, unverfälschte Zufälligkeit, die nach dem Chaos kommt, ihrerseits auch bloß der Fußabdruck von etwas anderem. »
»Vielleicht ein Fußabdruck desch reinen, unverfälschten Chaosch«, wirft Charlie Atwater ein.
Der Gastprofessor aus Deutschland schiebt angewidert seinen Stuhl zurück. »Wenn Sie mich fragen: Er sucht also die reine Zufälligkeit? Meinetwegen, warum nicht? Jeder hat sein Steckenpferd. Aber was er gefunden hat, ist die reine Lächerlichkeit.«
Nervöses Gelächter kommt auf, ebbt aber gleich wieder ab. Alle schauen erwartungsvoll zu dem Redner am oberen Ende der Klammer hin.
Lemuel sammelt seine Gedanken. »Als das Molekül entdeckt wurde, war es in gewissem Sinne ein Fußabruck des Atoms. Das Atom erwies sich dann unter anderem als Fußabdruck eines Kerns, der Atomkern als Fußabdruck von Protonen und Neutronen, und diese halten wir heute für Fußabdrücke von Mesonen und Quarks. Aber wovon sind Quarks der Fußabdruck? Wer könnte behaupten, sie seien nicht der Fußabdruck von etwas, was noch tiefer im Inneren versteckt liegt?«
»Matilda hat recht«, ruft Sebastian Skarr. »Wenn das, was Sie sagen, stimmt, wird die Reise nie zu Ende sein. Es gibt keine
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