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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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parallel arbeitender Supercomputer habe ich selbst Pi auf mehr als drei Milliarden Dezimalstellen berechnet.«
    Der dunkelhäutige Student in der zweiten Reihe hebt den Bleistift, mit dem Radiergummi nach oben.
    »Sir?«
    »Yo.«
    »Warum?«
    »Warum was?«
    »Sir, warum sich die Mühe machen, so viele Stellen zu berechnen, wenn doch ganze siebenundvierzig Stellen schon ausreichen, um die Bahn eines Raumschiffs mit beinahe perfekter Genauigkeit zu bestimmen – allenfalls plusminus des Durchmessers eines Protons?«
    »Izzat Afshar«, informiert Miss Bellwether, die an der Wand lehnt, Lemuel in sachlichem Tonfall, »ist Austauschstudent aus Syrien. Im Gegensatz zu manchen unserer eigenen hausbackenen Studenten gelingt es ihm nicht nur, in der Vorlesung wachzubleiben, sondern er macht sogar Hausaufgaben.«
    »Das ist eine absolut faszinierende Frage«, sagt Lemuel zu Izzat.
    »Sir, ich warte gespannt auf Ihre Antwort.«
    Die Augen eines Studenten, der in der letzten Reihe vor sich hindöst, öffnen sich flatternd. »Izzat ist ein amtlich beglaubigter Schwachkopf«, sagt er laut. Das Mädchen in der zweiten Reihe kichert erneut.
    »Hey, bitte unterlassen Sie das«, weist Lemuel den Studenten in der hintersten Reihe zurecht. Er starrt ihn an, bis er wegschaut und wieder einschläft. Lemuel wendet sich an Izzat. »Also, aufgepaßt. Die Berechnung von Pi auf drei Milliarden Stellen hat eine praktische Seite, mit der ich mich hier nicht befassen werde. Sie hat aber auch eine theoretische Seite, und mit der werde ich mich befassen. Die drei Milliarden dreihundertdreißig Millionenzweihundertsiebenundzwanzigtausend
    siebenhundertdreiundfünfzig Dezimalstellen von Pi, die mir bekannt sind, bilden allem Anschein nach die zufälligste Zahlenreihe, die der Mensch je entdeckt hat. Ich für mein Teil vermute, daß man den Wert von Pi von heute bis zum Jüngsten Tag berechnen könnte, ohne in diesem Wahnsinnswurm Methode zu entdecken; ohne jemals an einen Punkt zu gelangen, wo man mit Sicherheit die nächstfolgende Ziffer vorhersagen könnte. Natürlich blitzt hier und da etwas auf, was ich als Zufallsordnung bezeichne, die, in der Theorie, ein Bestandteil reiner, unverfälschter Zufälligkeit ist; etwas, was wirklich zufällig ist, weist natürlich auch zufällige Wiederholungen auf. Das ist der Grund, weshalb so um die dreihundertmillionste Dezimalstelle acht aufeinanderfolgende Achten auftauchen. Und später zehn Sechsen. Und irgendwann nach den ersten fünfhundert Millionen stößt man auf die Zahlenfolge eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht neun.«
    Der Bleistift schießt wieder hoch. »Sir, wollen Sie damit sagen, daß eine wahrhaft zufällige Reihe von Zahlen zwangsläufig zufällige Wiederholungen aufweisen muß?«
    Lemuel verbeugt sich spöttisch. »Exakt.«
    »Sir, wie erkennt man den Unterschied zwischen zufälligen Wiederholungen, die eine Zahlenfolge als wirklich zufällig ausweisen, und nichtzufälligen Wiederholungen, die darauf schließen lassen, daß eine Zahlenreihe keineswegs zufällig, sondern chaotisch ist?«
    »Hey, Izzat, kannst du das am Flaggenmast hissen und noch mal davor salutieren?« witzelt einer der Jungen in der letzten Reihe.
    »Abermals eine absolut faszinierende Frage«, räumt Lemuel ein. »Ich nehme an, Sie warten gespannt auf meine Antwort.«
    »Ja, Sir.«
    »Nichtzufällige Wiederholungen lassen, wenn ich sie durch ein von mir selbst entwickeltes Computerprogramm laufen lasse, etwas erkennen, was wir in der Chaosbranche als seltsamer Attraktor bezeichnen, und dabei handelt es sich um ein mathematisches Abbild der Ordnung, die wir im Innersten eines chaotischen Systems vermuten. Wenn man dagegen zufällige Wiederholungen mit demselben Programm analysiert, dann – Pfeifendeckel.«
    »Wie bitte, Sir? Pfeifendeckel?«
    »Pustekuchen. Nichts. Nada. Null. Niente. Nothing. Was wir als diskrete Aufforderung verstehen sollten, den Hut abzunehmen, Kerzen anzuzünden und im Flüsterton zu sprechen, weil wir uns möglicherweise im Dunstkreis reiner, unverfälschter Zufälligkeit befinden.«
    »Sir, Sie sprechen von reiner, unverfälschter Zufälligkeit, als handle es sich dabei um eine Religion, als sei sie das Werk Gottes.«
    »Reine, unverfälschte Zufälligkeit«, entgegnet ihm Lemuel – die Worte strömen aus einem unerforschten Brooklyn im tiefsten Inneren seines Herzens – »ist nicht das Werk Gottes. Sie ist Gott.«
    Lemuels Augen leuchten vor Ergriffenheit. Also hatte der Rebbe doch

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