Der Gastprofessor
se nix mim Schnee zu tun hat, was hat’s dann auf sich mit der Zufälligkeit, die Gott war?« Word Perkins beißt sich auf die Lippe. »Wo Sie doch Gasprofessa sind an der Chaosschule, freß ich’n Besen, wenn der Zufall nich was mit’m Chaos zu tun hat.«
»Zufälligkeit und Chaos hängen miteinander zusammen, aber nicht so, wie Sie denken. Chaos ist das Gegenteil von Zufälligkeit, Word. Im tiefsten Innern enthält das Chaos den Keim der Ordnung. Auch wenn wir sie nicht sehen können, ja?, ist die Ordnung doch da. Reine Zufälligkeit dagegen verbirgt in ihrem tiefsten Innern …«
»Langsam kapier ich. Die Zufälligkeit, die nix mit Schnee nich zu tun hat, verdeckt die Unordnung.«
»Nicht so sehr Unordnung, denn die setzt bewußte Vermeidung von Ordnung voraus, sondern ein schlichtes, elegantes, völlig natürliches Fehlen jeder Ordnung.« Lemuel spricht jetzt mit sich selbst. Teile eines Puzzles fügen sich zusammen. »Yo! Der Rebbe, dem Zufälligkeit körperliches Unbehagen bereitet, der sie für ein Laster hält, hat Spuren von Zufälligkeit bei Gott entdeckt, und das ist der Grund, warum er Gott liebt, Ihn aber nicht mag. Ich für mein Teil halte Zufälligkeit für eine Tugend, und als ich Spuren von Gott in der Zufälligkeit entdeckte, hat mir das geholfen, Ihn zu mögen, obwohl ich nicht hundertprozentig sicher bin, daß es ihn überhaupt gibt.«
Word Perkins ist verwirrt. »Wie kann man was mögen, was es gar nich gibt?«
»Ich kann zu Ihnen sagen, daß es nicht leicht ist.« Lemuel taucht ab ins Labyrinth seiner eigenen Logik. »Hey, Dostojewski ist auf dem falschen Dampfer, wenn er Iwan Karamasow sagen läßt, wenn Gott tot wäre, dann wäre alles erlaubt. Gerade weil Gott lebt, weil Er die Inkarnation der Zufälligkeit ist, ist alles erlaubt. Verstehen Sie, Word? Verdammt noch mal, wenn Er sein kann, wann und wo Er will, dann können wir, seine Ebenbilder, das auch.«
»Ja, na ja, was mir so an Ihn gefällt, Professa aus Petasburg, ja?, is, daß Sie nich auf dem hocken, was Sie wissen -Sie bring’s unter die Leute.« Word Perkins rutscht vom Schreibtisch herunter und geht in Richtung Tür. »Denk’n Sie nich, daß mir unser kleiner Plausch nich gefällt, aber ich muß mit meiner Runde weitermachen. Schrein Sie, wenn Sie’s gut sein lassen wolln, ja? Dann kann ich die Tür hinter Ihn abschließen.« Sein Kichern hallt durch den langen Korridor. »Wolln ja nich, daß sich Unbefugte reinschleichn und sich am Chaos von unserm Institut vergreifn, oder?«
»Nein«, stimmt Lemuel zerstreut zu und dreht sich wieder zum Bildschirm um.
Er gibt ein paar Befehle ein, lehnt sich zurück und sieht zu, wie endlose Ziffernkolonnen über den Bildschirm marschieren; der Großrechner des Instituts, eine Cray Y-MP C-90, vergleicht, von Lemuels Tastatur aus gesteuert, die neuesten beiden Serienmorde mit den achtzehn Morden davor. Der Supercomputer nähert sich den Verbrechen aus verschiedenen Richtungen, vergleicht Alter, Beruf und äußere Merkmale der Opfer, die Tageszeiten der Verbrechen, die Monatstage, die Mondphasen, die Schauplätze der Morde. Ausgehend von den Fallbeispielen der beiden neuen Serienmorde hat Lemuel auf der Suche nach dem Keim von Ordnung in all der Unordnung neue Elemente einprogrammiert: Körpergröße und Gewicht der Opfer beispielsweise, oder die Farbe der Kleidung, die sie trugen, als sie umgebracht wurden. Obwohl er numerische Äquivalente in immer neuen Kombinationen und Permutationen analysiert und zahllose Variationen über ein und dasselbe Thema durchspielt, entdeckt der Supercomputer nicht die Spur von Ordnung in diesem Wust von Zufälligkeit.
Frustriert und immer noch überzeugt, daß er irgend etwas übersehen hat, schaut Lemuel besorgt auf die Wanduhr. Nach dem Belegungsplan, der vor dem Direktorat ausgehängt ist, darf er von seinem Terminal aus den Supercomputer des Instituts bis Mitternacht nutzen, und dann soll die Cray für eine routinemäßige Wartung ihres Kühlsystems abgeschaltet werden. Indem er mit steifen Fingern auf die Tastatur einhackt, weist Lemuel den Großrechner an, das Problem abermals aus einer anderen Richtung anzugehen, und lehnt sich dann zurück und starrt auf den Bildschirm, auf dem neue Zahlenkolonnen erscheinen. Nach wie vor scheint jedes der Verbrechen rein zufällig zu sein, die Software liefert keinerlei Anhaltspunkte für einen seltsamen Attraktor, der eine Überschneidung andeuten würde, die Wiederholung eines Details, ein Körnchen
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