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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Whalen Turner
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und Costis ging rückwärts aus dem Zimmer.
    In der Wachstube stand er an der Tür zum Gang und war hin- und hergerissen. Es würde mehr Mumm als erwartet erfordern, den Schritt nach vorn in die Tür zu machen und die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zu ziehen. Die Tür stand offen. Costis hatte sie beim ersten Mal offen stehen lassen, und
der König hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, also ging er davon aus, dass sie offen bleiben sollte. In nur drei Schritten konnte er sie erreichen und wieder ein reines Gewissen haben.
    Er rührte sich nicht. Er ging sein Streitgespräch mit Aristogiton im Kopf noch einmal durch, kam aber wieder zu demselben Schluss. Wenn er etwas wiedergutmachen wollte, musste er dem König gestehen, was er getan hatte. Dann dachte er noch einmal darüber nach, wie wichtig es ihm war, seine Selbstachtung zurückzugewinnen. Zu wichtig, beschloss er schließlich und ging auf die Tür zu.
    Der König saß  – die Füße auf dem Sessel und die Knie an die Brust gezogen  – da und blickte über sie hinweg aus dem Fenster. Er rührte sich nicht, und seine Tränen flossen so lautlos, dass Costis einen Atemzug lang brauchte, um zu begreifen, dass der König weinte. Als er es erkannte, wich er hastig aus dem Gesichtsfeld des Königs zurück.
    »Was ist, Costis?« Die Stimme des Königs war ruhig. Er musste die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben.
    Widerwillig trat Costis vor. »Es tut mir leid, Euer Majestät.«
    »Es wird schon alles gut, da bin ich mir sicher. Wolltest du irgendetwas sagen?«
    Costis schaute vom Boden auf. Alle Spuren der Tränen des Königs waren verschwunden; sie waren so vollkommen ausgelöscht, dass Costis fast bezweifelte, sie je gesehen zu haben.
    »Äh …«
    »Du hast mich unterbrochen, um ›Äh‹ zu sagen?«
    Es brach aus Costis hervor: »Ich habe der Königin verraten, dass Ihr hier sitzt und aus dem Fenster seht.«
    Der König betrachtete weiter, was auch immer draußen seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. »Sie ist deine Königin. Du könntest dich kaum weigern, ihre Fragen zu beantworten.«
    »Ich habe es auch Baron Susa erzählt.«
    Der König wandte sich von der Aussicht ab. Sein Gesicht war ausdruckslos. Costis stammelte eine Entschuldigung. Hilflos tastete er nach der Münze, die er seit jenem Tag überallhin mitgenommen hatte, und streckte sie dem König hin. »Ich will sie nicht«, sagte er. »Ich habe es nicht um des Geldes willen getan, ich wollte es überhaupt nicht tun.«
    Der König wandte sich wieder dem Fenster zu.
    Costis stand immer noch mit ausgestreckter Hand da, die Silbermünze auf der Handfläche, und wartete auf die Strafkolonie.
    Am Ende sagte der König sehr leise: »Ich entschuldige mich bei dir, Costis. Ich habe dich in eine unmögliche Lage gebracht. Warum lässt du nicht einfach mein Gefolge wieder herein? Dann kannst du gehen.«
    »Gehen, Euer Majestät? Der Wachwechsel findet erst zur vollen Stunde statt.«
    Eugenides schüttelte den Kopf. »Du darfst jetzt gehen«, sagte er.
    »Was soll ich mit der Münze machen?«
    »Bring sie als Weihegabe dar. Ich bin überzeugt, dass irgendein Gott oder Priester ihren Wert zu schätzen weiß.«
    Costis ging rückwärts durch die Tür. Wie betäubt ließ er die Kammerherren des Königs und die Wachen ein.
    »Ich bin entlassen worden«, sagte er zu dem Truppführer.
    Der Truppführer nickte, und Costis trat auf den Gang hinaus.
    »Was, Leutnant? Geht Ihr etwa schon?«, fragte der Gardist dort fröhlich.
    »Ich bin entlassen worden.«
    »Dann habt Ihr heute früher frei? Glückwunsch«, sagte der Gardist.
    Costis ging den düsteren Gang hinunter.
    Er hatte nicht einfach früher frei. Der König war fertig mit ihm. Sein Aufenthalt im Fegefeuer war vorüber. Er sagte sich, dass er glücklich hätte sein sollen, und fragte sich, warum er nicht erleichterter war. Vielleicht hatten ihn die Tränen des Königs erschüttert, aber über die wollte er nicht nachdenken. Er hatte sein Gewissen erleichtert und war nicht in eine Strafkolonie verbannt worden; die Zukunft hätte rosiger aussehen sollen. Er fragte sich, was der König so Interessantes von seinem Fenster aus sah.
    Während er auf dem Rückweg in die Baracken eine schmale Treppe hinunterstieg, bot sich ihm die Antwort wie von selbst dar. Als Costis auf einem Treppenabsatz die Richtung änderte und die nächste Stufenflucht hinunterzugehen begann, befand er sich direkt gegenüber von einem Fenster in der Außenmauer des

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