Der Gebirgspass
zurückhalten, doch einen ausgewachsenen Ziegenbock an seinem Vorhaben zu hindern, war ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch gab sich Oleg redliche Mühe.
Er schlug mit dem Lanzenschaft auf den Bock ein. Der allerdings schien anzunehmen, man liebkose ihn, und jaulte begeistert.
Thomas lief im Schnee auf und ab, um warm zu werden, er hatte sich in die Decke gehüllt und ging so krumm, daß Oleg ihn für einen alten Mann hielt. Dabei wußte er, daß Thomas gerade mal vierzig war. Egli hatte einmal gesagt, die Alterungsprozesse würden in der Siedlung aus irgendwelchen Gründen schneller verlaufen, worauf Tante Luisa erwiderte, daß sie bei solch einer Diät eigentlich schon längst hätten alle den Löffel abgeben müssen. Sie litten sämtlich unter ständiger Kolitis, unter Gastritis und Allergien, und die ältere Generation hatte es durchweg mit den Nieren. Die Kinder freilich waren verhältnismäßig gesund. Dabei hatten die Leute in der Siedlung noch Glück, daß sich die meisten einheimischen Mikroben dem menschlichen Stoffwechsel nicht anzupassen vermochten. Noch nicht, wie Tante Luisa sagte.
„Schade, daß es hier keinen Sumpf gibt“, sagte Marjana, „ich würde euch schon die nötigen Gräser sammeln.“
„Und warum hast du’s nicht eher getan?“ fragte Oleg. Marjana kannte sich im Dorf am besten von allen in Kräutern aus, sie schien sie förmlich mit der Haut zu spüren.
„Du bist vielleicht komisch“, erwiderte Marjana erstaunt. „Dieses Gras muß man sofort essen, solange es noch frisch ist, wie willst du es denn aufheben?“ Sie wunderte sich immer, daß andere nicht sahen, was für sie augenscheinlich war.
Oleg schaute sich um. Wenn es hier Sümpfe gab, waren sie über Nacht zugefroren. Doch wahrscheinlich existierten gar keine — dieses Gelände lag höher als die Siedlung, war trockener und steiniger.
„Oleshka“, rief Thomas, „komm mal her.“ Er hatte sich hingesetzt und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Wieder mal der Rücken“, sagte er, „mein Hexenschuß.“
„Ich reib Sie nachher ein“, erbot sich Marjana.
„Danke, aber es hilft nicht“, Thomas lächelte gequält. Er ähnelte einem Raben, wie ihn der Alte im Biologieunterricht immer zeichnete: ein dunkler Vogel mit großer spitzer Nase. „Sag mal, du weißt doch noch, wo ich die Karte aufbewahre? Für den Fall, daß mir was zustößt.“
„Ihnen wird nichts zustoßen“, erwiderte Oleg, „wir sind doch zusammen.“
„Trotzdem wollen wir kein Risiko eingehn. Verstehst du dich aufs Kartenlesen?“
Die Skizze befand sich auf einem kleinen Blatt Papier, dem wertvollsten Gut im Dorf. Oleg verspürte gegenüber Papier stets ein merkwürdiges, besonderes Gefühl. Papier, selbst ein unbeschriebenes Blatt, war auf Zauberart mit Wissen verbunden, dazu geschaffen, Wissen auszudrücken, so etwas wie eine göttliche Offenbarung.
Thomas, immer wieder von Husten geschüttelt, ließ Oleg auf der Karte die Route zum Gebirgspaß nachvollziehn. Der Weg war bekannt; sie alle hatten ihn zusammen mit Waitkus und dem Alten mehrmals durchgesprochen. Freilich war es eine Sache, die Strecke in der Siedlung durchzugehen, etwas völlig anderes jedoch, sie dann in der Praxis zurückzulegen, die Entfernung und die Kälte zu spüren. Denn im Haus war es warm gewesen, die Lampen hatten behaglich gebrannt, und draußen hinter der Wand war leise rauschend der Regen herabgeströmt …
Dick kam mit einem Hasen zurück. Der Ziegenbock geriet beim Anblick des kleinen leblosen Körpers in Panik und stürzte mit großen Sprüngen zum Hang davon, wo er stehenblieb und verwundert den Kopf schüttelte.
„Er ahnt, was ihn erwartet“, sagte Dick und warf den Hasen auf die Steine. „Wir wollen ihn lieber gleich essen, dann macht das Laufen mehr Spaß. Dir, Thomas, tut es auch gut. Noch besser wär es ja, wenn du tüchtig von dem heißen Blut trinken würdest, das mache ich während der Jagd immer. Aber das willst du wahrscheinlich nicht, oder?“
Thomas schüttelte den Kopf.
„Und was treibt ihr da“, erkundigte sich Dick, „studiert ihr die Karte?“
„Thomas bestand darauf, daß ich den Weg nochmals durchgehe. Für den Fall, daß ihm was passiert.“
„Ist doch Unsinn“, sagte Dick, ging in die Hocke und begann geschickt den Hasen auszunehmen, „du hältst schon noch eine Weile durch. Sollte es schlechter werden, kehren wir um.“
Oleg begriff, daß Dick den anderen nicht kränken wollte. Er hatte ja mit seiner Meinung, Thomas könnte unterwegs
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