Der Gebirgspass
Augen, lauschte reglos und sofort hellwach ins Dunkel, dann schlief er wieder ein. Marjana rollte sich im Schlaf an Olegs Seite und legte ihm den Kopf auf die Schulter — so war es behaglicher. Fern im Wald war ein Krachen zu vernehmen, danach ein langsames, allmählich stiller werdendes Grollen. Thomas wählte ein möglichst dünnes Holzscheit aus und legte es aufs Feuer.
Als es hell wurde und bläulicher Nebel sich durch den Riß im Vorhang ergoß, als fern im Wald mit fröhlichem Gezirp die Grashüpfer den neuen Tag begrüßten, legte Dick, der den Rest der Nacht am erloschenen Feuer gewacht hatte, die dabei geschnitzten Pfeilschäfte sorgfältig in einen Sack und schlief ruhig ein. Deshalb bemerkte auch niemand, daß der Ziegenbock die Höhle verließ. Marjana, als sie erwachte, war bekümmert, sie sprang ins Freie, lief die Felsen ringsum ab — nirgends auch nur die kleinste Spur.
„Ich hasse ihn“, sagte sie, als sie zurückkam.
„Warum denn“, fragte Oleg, „weil er sich nicht bei dir bedankt hat?“
„Er hat’s bei uns besser, hier ist er weniger in Gefahr.“
„Ich hätte ihn mal doch im Morgengrauen erschießen sollen“, sagte Dick. „Ich wollte es schon tun, dachte dann aber, am Tage ging es besser.“
„Das ist niederträchtig“, sagte Marjana, „schließlich hat er uns heute nacht gerettet.“
„Das eine hat mit dem andern nichts zu tun“, erwiderte Dick, „verstehst du das denn nicht? Außerdem hatte der Ziegenbock nur sein eignes Fell im Sinn.“
Oleg griff nach dem Ledereimer, er wollte sich auf Suche nach Wasser machen.
„Vergiß den Speer nicht“, sagte Marjana.
„Und entferne dich nicht zu weit“, ermahnte Thomas.
„Ich bin kein kleiner Junge“, wehrte Oleg ab, nahm aber den Speer.
Der Nebel hatte sich noch nicht gelichtet, er versteckte sich in den Niederungen. Die Wolken reichten fast bis zur Erde, und zwischen ihnen und den Nebelkissen bildeten sich vereinzelt Verbindungsbögen, so als streckten die Wolken im Vorbeifliegen die Hände zum Nebel aus, um ihn zum Mitkommen aufzufordern. Doch der Nebel liebte die Ruhe und hatte kein Verlangen, am Himmel entlangzufliegen. Oleg sagte sich, daß er durchaus bereit wäre, anstelle des Nebels mit den Wolken nach Süden zu ziehn, zu den großen Wäldern, zum Meer, wohin im vorigen Jahr Sergejew, Waitkus und Dick aufgebrochen waren. Posnanski war noch dabeigewesen, doch nicht zurückgekehrt. Sie waren nicht weit gekommen, hatten das Meer nicht erreicht, weil die Wälder dort unübersehbar groß waren, voll von räuberischen Lianen und giftigem Getier. Je wärmer es war, desto mehr Kreaturen gab es, die dem Menschen gefährlich werden konnten. Flog man dagegen mit den Wolken, konnte man über die Baumwipfel und das Meer hinwegjagen wie die Vögel hoch droben, die bei gutem Wetter mitunter als Schatten in den Wolken auftauchten, doch nie einen Fuß auf die Erde setzten. Gewiß, die Menschen konnten fliegen, viel schneller sogar als die Wolken, doch in der Siedlung mußten sie ganz von vorn beginnen. Das aber war schwierig, weil es an Zeit und Material fehlte. Oleg zum Beispiel wollte einen Ballon herstellen, doch dafür benötigte er sehr viel Fischhaut, Faden und Nadel. Niemand außer dem Alten und den Kindern war bereit gewesen, ihm zu helfen.
„Abstrakt gesehen ist die Idee gar nicht mal so schlecht“, hatte Sergejew gesagt, „in hundert Jahren werden wir uns unbedingt damit befassen.“
„In hundert Jahren werden wir diese Idee allesamt vergessen haben“, erwiderte der Alte. „Wir werden uns Götter schaffen, die hoch in den Wolken wohnen und uns Sterblichen verbieten, sich ihnen zu nähern.“
Jedenfalls war es mit dem Ballon nichts geworden.
Oleg bewegte sich hügelabwärts, er glaubte das Rauschen von Wasser zu hören. An solchen Stellen konnte es durchaus Quellen oder kleine Rinnsale geben. Schon bald kam er an den Geröllhang, hinter dem der Hut des Riesenpilzes aus dem Boden ragte, der gestern abend seinen Schlund aufgerissen hatte. Die Nebelhaube kroch langsam von dem hellen kreisförmigen Gebilde herunter, und Oleg beobachtete, wie sich, Blütenblättern gleich, das Zentrum des Pilzes langsam öffnete. Aus dem Nebel jenseits der Niederung rollten feierlich und in regelmäßigen Intervallen nacheinander
mehrere graue Kugeln heran. Sie wirkten weich und porös, schienen auch etwas dunkler als der Pilz … Das also waren sie, die Gäste von heut nacht, die giftigen Elefanten, die Teigmasse.
„Die Jäger kehren nach
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