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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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wieder bei uns sind!«
     

    Nun dachte ich: Herrgott! Kotzt mich deine Visage an!
    Ich quälte mich durch die Stunden. Und wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Mit größtem Widerwillen versuchte ich mich in das mir zugefallene Thema einzuarbeiten, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich hatte Angst. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich ganz allein war. Ohne eine Liebe, ohne einen Freund, ohne eine vertraute Person. Da tauchten aus den Tiefen der Erinnerung meine Eltern auf. Freundlich lächelnd schauten sie mich an. »Junge, wir würden dir jetzt so gerne beistehen und helfen«, sagte meine Mutter. »Aber das können wir leider nicht«, seufzte mein Vater, »wir dürfen ja nicht in eure Welt eingreifen, du musst es alleine schaffen.« »Das werde ich auch«, flüsterte ich ihnen in Gedanken beschwichtigend zu. Schon seit achtzehn Jahren waren sie tot. Die Tragik ihres frühen Sterbens hatte ich nie wirklich überwunden. Ihr kleiner Opel Kadett war auf der Autobahn an einem Stauende von einem Dreißigtonner überrollt worden. Anschließend hatten mehrere Autos Feuer gefangen, und im Grab meiner Eltern lag vermutlich ein Gemisch aus verbranntem Gummi, Plastik, Tiermehlasche (denn mit Tiermehl war der Lkw beladen gewesen), Menschenasche und Knochenresten. Zwölf Personen waren bei dem Inferno ums Leben gekommen. Eine Identifizierung der Leichen und eine Zuordnung der Überreste waren nicht mehr möglich gewesen. Also hatte man an der Unfallstelle wohl einfach alles zusammengekehrt und auf zwölf Särge verteilt. Ich war nach der Beerdigung nie wieder auf den Friedhof gegangen. Die Gedenkstätte an meine Eltern befand sich in meinem Kopf, nicht dort, wo man einen Haufen Sondermüll vergraben hatte.
     

    Während ich auf die neuesten Meldungen der Nachrichtenagenturen starrte, schoss mir eine Frage durch den Kopf:
    Gibt es mehr Lüge auf der Welt denn Ehrlichkeit?
    Ich wunderte mich, dass ich mir diese Frage früher nie gestellt hatte. Die dunklen Seiten des Menschen waren mir durchaus bewusst gewesen, das brachte allein schon mein Beruf als politischer Journalist mit sich, aber im Grunde hatte ich doch immer an die Stärke und Dominanz des Guten geglaubt. Dieser Glaube aber war nun erheblich ins Wanken geraten. Obwohl ich noch gar nicht so viele fremde Gedanken gehört hatte. Jene allerdings, die mir zu Ohren gekommen waren, hatten es in sich gehabt.
     

    Vielleicht verliert man als Gedankenleser über kurz oder lang den Verstand? Auch darüber dachte ich nach. Weil das Gehirn überfordert ist. Weil böse fremde Gedanken wie Viren das eigene Denken verseuchen. Weil man keine Hoffnung mehr hat. Oder die Einsamkeit nicht mehr erträgt.
    Würde ich je wieder jemanden lieben können?
    Wie sollte das möglich sein?
    Ich müsste einen umfassend aufrichtigen und guten Menschen finden. Das wäre die Grundvoraussetzung. Jede verborgene charakterliche Unvollkommenheit würde ich ja sofort erkennen und davon abgestoßen sein. Zudem müsste ich für diese Person auch noch Großes empfinden können. Und sie für mich. Zwei weitere Prämissen. Doch danach, wie ginge es weiter? Anna hatte ich noch fast ohne Skrupel in die Seele geschaut und sie heimlich belauscht, aber einer neuen, mir in tiefer Ehrlichkeit verbundenen Person würde ich so etwas nicht antun wollen. Darüber war ich mir im Klaren. Um allerdings das Reine in jemandem erkennen zu können, müsste ich mich zunächst ja doch meiner »Gabe« bedienen. Und überhaupt: Wie sollte ich neben dem geliebten Menschen leben? Wenn ich auch nicht gezielt in ihn hineinhorchte, meine Fähigkeit zwang mich doch geradezu zur Indiskretion. Es sei denn, ich würde stets auf Abstand bleiben. Schwer vorstellbar in einer Liebesbeziehung.
     

    Mir wurde ganz schwindelig zumute.
    Ist unser Gehirn überhaupt konzipiert für die reine Wahrheit?
    Zum ersten Mal seit dem Tod meiner Eltern trat plötzlich Gott wieder auf den Plan. Hatte ich ihn damals beschimpft und dafür verflucht, uns ein solches Unglück angetan zu haben, so hätte ich jetzt sehr gern ein paar Worte mit ihm gewechselt und seine Meinung erfahren. Steckt hinter der »Gabe« ein Sinn? Ist sie eine Prüfung? Oder gar eine Bestrafung? Wie könnte man sich ihrer entledigen? Und vor allem: Was soll ich jetzt tun?
     

    Lichtung. Manche meinen, Lechts und Rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein Illtum!
     

    Ich erschrak und fühlte mich wie herausgerissen aus einer Trance. Was war denn das? Werch ein Illtum? Ich

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