Der Gedankenleser
war mir ganz sicher, dass die Stimme das gerade gesagt hatte. Langsam und überdeutlich artikuliert.
Ich blickte von meinem Schreibtisch auf, aber weder vor noch neben mir stand oder saß jemand.
Ludwig liebte Lottes Lüsternheit. Lockender Locken Liebenswürdigkeit. Lotte liebte Ludwig leichtberitten. Ludwigs Lagerstättes Latten litten. Lottes lebensfrohe Liebeslust lädierte leider Ludwigs Lattenrost. Lottes liebster Ludwig lachte lediglich. Lädierte Latten? Lamentieren? Lächerlich. Liebkoste lieber Lottes Leberflecken. Liebte lückenloses Lendenlecken. Lothar leimte Ludwigs Lattenrost lattenweise. Lotte leckte lieber Ludwigs Latte leise.
Beliebte die Stimme mit mir zu scherzen? Oder wollte Gott mir auf diese Weise kryptisch etwas mitteilen? Ich wusste nicht, wie mir geschah. Da kam ich endlich auf die Idee, mich einmal umzuschauen. Und genau hinter mir stand, den Rücken mir zugewandt, unser Volontär Sebastian. Er schien träumend aus dem Fenster zu blicken.
In Hamburg lebten zwei Ameisen, die wollten nach Australien reisen. Bei Altona auf der Chaussee, da taten ihnen die Beine weh. Und da verzichteten sie weise denn auf den letzten Teil der Reise.
Er zitierte in Gedanken Gedichte!
Ja, das war es.
Ich hatte ihn schon seit langem für einen komischen Kauz gehalten, jedoch durchaus Sympathie für ihn empfunden. Witterte ich bei ihm doch eine gewisse Seelenverwandtschaft. Obwohl wir uns nie privat unterhalten hatten. Meine Ahnungen beruhten lediglich auf Beobachtungen. Er wirkte immer etwas gelangweilt, dabei sehr verschlossen, und hatte in meiner Anwesenheit noch nie eine besondere Leidenschaft für die Welt der Politik gezeigt. Er schrieb zwar ordentliche Artikel, aber von ehrgeizigem Engagement keine Spur. Er hatte sich sogar einmal mit Großbogenbelt angelegt. Ungewöhnlich und sehr mutig für einen Volontär.
Er mochte also Verse. Das gefiel mir. Nach meiner trüben Grübelei zuvor wäre ich nun einem Gespräch mit ihm nicht abgeneigt gewesen. Nur, wie sollte ich es beginnen? Er schien sich für mich nicht zu interessieren, und ich hatte ihn bislang auch links liegengelassen. Ich überlegte kurz, gab mir dann aber einen Ruck und fing etwas unbeholfen an:
»Wie lange werden Sie eigentlich noch bei uns sein, Sebastian?«
Er drehte sich um und schaute mich überrascht und etwas misstrauisch an.
Warum fragt er mich das?
»Noch zwei Monate.«
»Ist Ihr Volontariat dann beendet - oder müssen Sie noch in eine andere Abteilung?«
Warum interessiert er sich dafür?
»Nein, meine Zeit ist dann rum, und danach fahre ich erst mal für ein halbes Jahr nach Australien.«
»Tolles Land. Ich war auch schon einige Male dort.«
»Würden Sie dort leben wollen?«
»Ja, das könnte ich mir durchaus vorstellen. Oder in Skandinavien«, antwortete ich, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.
Aber du lebst hier und bist seit Jahr und Tag fest angestellter Redakteur. Alles stinknormal. Wie kann man das bloß aushalten?
Seine in Gedanken formulierte Frage traf mich, und ich hatte das Gefühl, etwas zu erröten.
Warum wird er rot? Hat er mich belogen?
»Welche ist für Sie die schönste Gegend in Skandinavien?«
Mal sehen, ob er spontan antworten kann.
»Die Lyngenalpen in Nordnorwegen und der Inari-See in Finnisch-Lappland.«
Okay! Überzeugt.
»Waren Sie auch schon in Skandinavien?«, fragte ich ihn.
»Ja, öfter, mein Vater ist Norweger.«
Jetzt sag bitte nicht Wie interessant!
Genau das wollte ich gerade tun, schluckte meine Worte jedoch schnell hinunter und fragte: »Mögen Sie Literatur?«
Hallo! Was ist denn das für ein merkwürdiges Gespräch hier? So kenn ich den ja gar nicht Ah ... die persönlichkeitsverändernden Folgen eines Blitzes ... spooky ...
»Ja, ich mag Literatur«, antwortete Sebastian sarkastisch, »so wie ich Fleischwurst und Frauen mag.«
»Ich mag Goethe lieber als Fleischwurst.«
He, he. Gut gekontert.
»Und ich Ernst Jandl lieber als Goethe«, gab er sofort zurück.
»Jandl? Ist das nicht dieser Gaga-dada-Dichter?«
Sehr witzig, du Gaga-Redakteur.
»Er war ein experimenteller Lyriker. Schon mal was von Laut und Luise oder Hosi und Anna gehört?«
»Nein.«
Dachte ich mir.
»Na ja, auch egal. Wie ist das so, vom Blitz getroffen zu werden?«
»Banaler, als man es sich vorstellt.«
Man könnte trotzdem ein paar gute
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