Der Gedankenleser
besser.«
Warst ja auch lang genug weg.
»Ist schon eine verrückte Sache, die Ihnen da passiert ist, kommt bestimmt nicht oft vor.«
Und während ich antwortete: »Es gibt immer wieder Überlebende nach einem Blitztreffer«, hörte ich schon die Stimme:
Ja, dein Glück, mein Dreck. Hätte es dich erwischt, hätte ich jetzt eine freie Stelle, die ich mit einem Neuen besetzen könnte - und dich wäre ich ein für alle Mal los gewesen.
»Durchaus«, sagte Großbogenbelt, »aber ich habe noch nie einen kennengelernt.« Er lachte linkisch und zog an seinen Hemdmanschetten. »Hatten Sie denn Schmerzen, als Sie getroffen wurden?«
Ich muss gleich zum Alten hoch. Wieder neue Einbrüche bei den Auflagezahlen. Er wird mich fertigmachen.
»Nein, Schmerzen nicht. Es ging alles sehr schnell, und dann bin ich im Krankenhaus aufgewacht.«
Es entstand eine Gesprächslücke. Ich schaute ihm in die Augen, und nur wenige Sekunden konnte er meinem Blick standhalten. »Ähm ... ja«, stammelte er, »vielleicht können wir aus Ihrem Fall eine Geschichte machen.«
Mein Arsch tut mir weh. Diese Scheiß-Hämorrhoiden. Die ganze Unterhose war vorhin voller Blut.
»Wie stellen Sie sich das vor?«
»Na ja, ein Kollege aus der Wissenschaft könnte Sie interviewen, oder Sie schreiben einen Artikel für die Panorama-Seite über Ihren Fall.«
Dann hab ich ihn erst mal beschäftigt.
»Nein, ich möchte nicht gerne über mich selbst schreiben ... und ein Interview? Ja, wenn wir meinen Namen ändern. Ich will aus dieser Geschichte kein Kapital schlagen.«
Ich fass es nicht, kaum hier, und schon wieder beginnen die Zickereien. Du Piss-Schwarte!
»Nun, ich würde das nicht ›Kapital daraus schlagen‹ nennen, mein Gott«, erwiderte er etwas gereizt, »aber darüber sollten wir nochmal reden. Könnten Sie sich heute dann erst mal um die Haushaltsdebatte des Bundestags kümmern?«
Großbogenbelt nannte mich also in Gedanken Piss-Schwarte. Und er hätte nichts dagegen gehabt, wenn ich durch meinen Unfall zum Pflegefall geworden wäre oder wenn ich gar mein Leben verloren hätte.
Obwohl mir dieser Mann alles andere als nahestand, er mir sogar äußerst unsympathisch war, so taten mir seine Gedanken doch sehr weh. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Natürlich war mir immer klar gewesen, dass er schlecht über mich dachte - das tat ich ja auch über ihn. Dass er mir aber in seinem Inneren Leid und Tod an den Hals wünschte, um seines eigenen Vorteils willen - damit hätte ich nicht gerechnet. Vielleicht hatte ich es manchmal geahnt, aber nicht wirklich geglaubt. Es dann unverhohlen zu hören, klar und deutlich, war sehr bitter.
Und ich sah die Bilder vor mir: meine Beerdigung, anwesend sind alle Kollegen, auch Großbogenbelt, wie er mit Trauermiene eine Schaufel Erde in mein offenes Grab wirft, dabei an seinen blutenden Hintern oder sonst was denkt, vielleicht für ein paar Augenblicke ernsthaft ergriffen ist, jedoch nicht wegen meines Schicksals, sondern aufgrund der kurzfristigen Einsicht, dass auch er irgendwann einmal in so einem Erdloch wird liegen müssen, dann Anna kondoliert und die verlogenen Floskeln wie geölt aus seinem stinkenden Maul quellen ...
Ich hatte noch nie jemandem den Tod gewünscht. Darüber war ich froh - und das sollte auch so bleiben. Aber es fiel mir eine andere Person ein, die genau das getan hatte. Es war der Mann mit Hornbrille gewesen, im Zug, auf meiner Fahrt ins Café Walldorf. Er hatte seinem Chef Hodenkrebs gewünscht. Wie schrecklich. Wahrscheinlich war die Welt voll von derartigen Flüchen. Ich hatte nie eingehend darüber nachgedacht.
»Hallo! Hallo! Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken? Ich habe Sie etwas gefragt«, hörte ich Großbogenbelt aus der Ferne sagen.
»Oh, entschuldigen Sie, so ein besonderer Fall bin ich nun auch nicht. Jährlich werden - ich weiß nicht wie viele Menschen vom Blitz getroffen und ...«
»Ja, ja, schon gut. Die Sache hatten wir bereits abgehakt. Also kümmern Sie sich um die Haushaltsdebatte?«
Herrgott! Kotzt mich deine Visage an! Und die seh ich jetzt wieder jeden Tag.
»Ich werde mich dransetzen«, antwortete ich.
»Gut.« Er stand auf und wollte sich schon von mir abwenden. Genau in dem Moment aber kam ein anderer Kollege an meinen Schreibtisch, um mich zu begrüßen. Da hielt Großbogenbelt in seiner Bewegung kurz inne - und sagte noch zu mir:
»Wir freuen uns, dass Sie
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