Der Gedankenleser
Verse drüber machen. Kenne nix dergleichen.
»Sind Sie ins Koma gefallen?«
»Ja.«
Nicht schlecht. Überschrift für den Reim vielleicht: Gottes elektrischer Piss-Strahl. Oder so ähnlich.
»Warum wollen Sie Journalist werden?«, fragte ich ihn.
Oh, Mann! Was soll denn das nun wieder? Und was antworte ich jetzt? Irgend so einen Senf von »Die vierte Gewalt im Staate«, Aufklärung der Menschen, Kontrolle der Mächtigen oder so?
»Ich habe Spaß am Schreiben. Und was ich nach Australien machen werde, weiß ich noch nicht. Vielleicht bleibe ich auch dort.«
Ist eher unwahrscheinlich. Aber es klingt gut.
Ich verlor das Interesse an dieser merkwürdigen Unterhaltung und überlegte, wie ich sie beenden könnte.
»Ja, lassen Sie die Reise erst mal auf sich wirken. Sie werden dann schon die richtige Entscheidung treffen.«
Holla. Was für eine gelungene Plattitüde. Vielen Dank für das Gespräch.
Ich glaube, ich wurde wieder rot. Denn er hatte absolut Recht. Wie konnte ich so etwas Abgedroschenes von mir geben?
»Ich werde Ihnen mal eine Mail schreiben.«
Das würde er nie im Leben tun. Davon war ich überzeugt. Also machte er sich über mich lustig, oder auch er wollte dieses Gespräch so schnell wie möglich beenden.
Gedanken von ihm konnte ich nicht mehr wahrnehmen. Dafür zog ein Farbengemisch vor meinen inneren Augen auf, das ich damals noch nicht zu deuten wusste. Erst viel später begriff ich, dass sich Sebastian, der Volontär, zu diesem Zeitpunkt in meiner Anwesenheit gelangweilt hatte.
»Ja, tun Sie das, ich würde mich sehr darüber freuen, und schicken Sie ein paar Fotos mit«, antwortete ich.
Und ärgerte mich ein weiteres Mal über mich selbst. Warum war es mir nicht gelungen, diese Unterhaltung mit einem aufrichtigen Satz zu beenden? »Ich wünsche Ihnen Glück«, zum Beispiel, das wäre so ein kurzer und ehrlicher Satz gewesen. Stattdessen schwadronierte ich etwas über Fotos, die mich ja doch nicht interessierten, denn ich kannte die Landschaften Australiens nun wirklich gut. Wie oft in meinen siebenundvierzig Lebensjahren hatte ich wohl schon ähnlichen Wörtermüll von mir gegeben? Ich wollte gar nicht darüber nachdenken.
»Ich muss dann jetzt mal los, zu einem Termin«, sagte Sebastian, und ohne eine Antwort von mir abzuwarten, war er auch schon verschwunden.
Die Mittagspause nahte, und ich überlegte, wie ich mich verhalten sollte. Denn Lars und Isabelle würden bestimmt bald zu mir kommen und vorschlagen, gemeinsam in die Kantine zu gehen. Da war ich mir ganz sicher. Sie würden vor mir den Schein wahren wollen - und gleichzeitig konnten sie mich ja nun wieder hervorragend als Tarnung für ihre geheime Affäre missbrauchen. Ich sah schon ihre verlogenen Gesichter vor mir, ihre gespielte Freude, ihr aufgesetztes Interesse und stellte mir all die Erbärmlichkeiten vor, die ich dabei von der Stimme zu hören bekommen würde. Ekelhaft. Nein, mit den beiden wollte ich meine Mittagspause nicht verbringen.
Ich räumte kurzerhand meine Unterlagen zusammen, stand auf und ging, ohne lange darüber nachzudenken, zu Helga. Sie war die dienstälteste Sekretärin in unserer Redaktion, einundsechzig Jahre alt, und ich hatte sie immer recht sympathisch gefunden. Ihr resolutes und patentes Auftreten war genau nach meinem Geschmack. Zudem hatte ich das Gefühl, dass auch sie mich mochte oder zumindest respektierte. So arbeiteten wir seit vielen Jahren zusammen, reibungslos, freundlich im Umgang und ohne jegliche Spannungen. Es hatte sich aber nie ein engeres kollegiales Verhältnis zwischen uns entwickelt. Warum, kann ich nicht sagen. Und nun stand ich neben Helgas Schreibtisch, schaute zunächst auf ihre kurzen, hennarot gefärbten Haare, dann in ihre stark geschminkten Augen und fragte sie, ob sie Lust hätte, mit mir zum Chinesen zu gehen.
Der Chinese galt unter uns Kollegen in Sachen Mittagstisch als attraktive Alternative zur verlagseigenen Kantine.
Sie wirkte völlig überrascht, zögerte kurz und sagte dann: »Na, das ist aber mal eine gute Idee, Arne! Gerne! Mir knurrt auch schon der Magen.«
Bedauerlicherweise aber, daran hatte ich nicht gedacht, gab es beim Chinesen nur ziemlich kleine und schmale Tische. War das Lokal gut besucht, herrschte dort immer eine drangvolle Enge. Zwar bekamen Helga und ich einen Vierertisch für uns allein, aber die Distanz zwischen ihrer und meiner Stirn mag gerade einmal fünfzig bis siebzig
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