Der Gedankenleser
Zentimeter betragen haben. Was das bedeutete, muss ich nicht erklären.
Während des kleinen Fußmarsches zu unserem Ziel hörte Ich weder Gedanken von Helga, noch nahm ich irgendwelche Gefühlsregungen von ihr wahr. Wir redeten so schnell Und viel, dass die Stimme wohl keine Chance hatte. Sie fragte nach dem Ablauf meines Unfalls, kommentierte vieles, erzählte von einem Starkstromschlag, den einer ihrer Neffen erlitten hatte und an dem er fast gestorben wäre, sie gratulierte mir zu meinem Glück, so gut davongekommen zu sein, erkundigte sich nach den Zuständen im St. Katharinen Hospital, denn vor Jahren war auch sie einmal dort behandelt worden, und ich fragte nach einigen Kollegen, der Stimmung in der Redaktion, wir kamen auf das vergangene Sommerfest zu sprechen, das ich versäumt hatte, darauf, wie der Big Boss, so nannte sie immer unseren Verlagsleiter, von einem besoffenen Azubi ausgebuht worden war - und schon standen wir im Chinarestaurant und nahmen an unserem Tisch Platz.
Das harmlose Geplauder hatte mir gutgetan. Ich unterhielt mich entspannt mit einer Person, hörte nur deren reale Stimme und konnte sofort, ohne von den Informationen aus ihrem Inneren abgelenkt zu sein, auf sie reagieren. Für kurze Zeit war alles so wie früher gewesen.
Auf den Boden der neuen Tatsachen aber wurde ich zurückgestoßen, als wir uns gerade gesetzt hatten und schweigend die Speisekarte studierten.
Glutamat. Hier ist bestimmt überall Glutamat drin. Igitt. Das kann ich nicht essen. Und die Hühner? Bestimmt aus Massentierhaltung. Die armen Geschöpfe. Pfui Teufel! Hätte vorschlagen sollen, dass wir woanders hingehen. Immer dasselbe. Ich will freundlich sein und mach dann Sachen, die mir gegen den Strich gehen. Ich trau diesen Chinesen überhaupt nicht über den Weg. Wer garantiert mir, dass sie keine Katzen braten? Na ja, dann nehm ich eben was Vegetarisches. Aber auch da ist Glutamat drin. Ich will nicht zunehmen. Nicht ein Gramm. Die Diät vorigen Monat war anstrengend genug.
»Hast du schon was gefunden?«, fragte sie interessiert und sehr freundlich.
»Noch nicht. Vielleicht nehme ich Ente.«
»Ich bin mir noch unsicher.«
Ente. Das war immer Rainers Lieblingsessen. Zehn Jahre sind wir jetzt schon auseinander. Ich werd die gebratenen Nudeln nehmen.
»Also, ich nehm nun doch die gebratenen Nudeln«, sagte ich mit einem innerlichen Grinsen.
»Das gibt's doch nicht, genau dasselbe habe ich auch gerade gedacht, ist ja lustig.«
Wir gaben die Bestellungen auf und stießen mit unserem alkoholfreien Bier an, das inzwischen serviert worden war. Es entstand eine kleine Gesprächspause.
Ich muss heut unbedingt noch zum Friseur. Hoffentlich schaffe ich das auch. Werd, dann schon um halb fünf gehen.
»Wie war denn eigentlich euer letzter Urlaub? Hat es dir in Neuseeland gefallen?«, fragte Helga.
»Schon, aber der Flug dorthin war einfach zu lang. Das Land allerdings ist ein Traum. Fast ein kleines Paradies. Wir waren mit dem Wohnmobil unterwegs ...«
Und während ich ein wenig von unserer Route und den Reiseeindrücken erzählte - Helga schaute mir dabei fest in die Augen - vernahm ich die Stimme:
Wenn ich es schaff, jeden Monat zweihundert Euro zu sparen, kann ich mir im Frühjahr die neue Couch kaufen. Ich werde den Alcantara-Bezug nehmen. Der ist gut abwaschbar.
»Tja, Neuseeland würde mich auch mal interessieren. Aber es gibt ja so viele Flecken auf dieser Erde, die ich noch nicht gesehen habe und die sicher wunderschön sind«, sagte Helga mit einem kleinen Seufzer.
»Wo hast du denn deinen letzten Urlaub verbracht?«
Daran will ich gar nicht zurückdenken.
»In Spanien. Ungefähr fünfzig Kilometer westlich von Malaga. Eine tolle Gegend. Ich war mit einer Freundin dort ...
Diesem Biest.
... wir haben uns ein Auto gemietet und sind dann viel rumgefahren.«
»Ja, ohne Auto ist man zu sehr an einen Ort gefesselt und sieht kaum was.«
Ich werd die Nudeln nur zur Hälfte essen. So spar ich jede Menge Kalorien.
»Da hast du Recht. Aber zu Hause ist es ja auch schön. Was macht denn euer neues Haus? Ist jetzt alles fertig?«
Ich putzte mir kurz die Nase.
Oh, was für ein ungewöhnlicher Ring.
Helga blickte auf meine rechte Hand.
Der Ring fiel ihr erst jetzt auf? Wir kannten uns nun schon so viele Jahre, und ich hatte ihn immer getragen. Am Mittelfinger. Es war ein breiter Silberring mit eingravierten
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