Der Gedankenleser
meinen inneren Augen ein roter Ozean auf. Die Farbe des Mitgefühls.
Von anderen Kollegen hatte ich ganz andere Sachen wahrnehmen müssen. Natürlich waren wir alle im Laufe der Jahre hartgesottener geworden. Ich selbst sicher auch. Und die meisten Tragödien, über die wir schrieben, erreichten nicht mehr unsere Seelen. Wir gingen professionell mit dem Leid um und bewahrten uns so die nötige Distanz. Wahrscheinlich wären wir sonst nicht fähig gewesen, unseren Beruf dauerhaft auszuüben. Dass sich der ein oder andere in Zynismus flüchtete, war nichts Ungewöhnliches. Ich hätte mir allerdings nie vorstellen können, wie viel Lebensverachtung sich oft dahinter verbarg.
Da war zum Beispiel Bert. Ende vierzig, Halbglatze mit fast schulterlangem Resthaar hinten und an den Seiten. Ich habe nie verstehen können, warum Männer ihren Kopf derartig verschandeln. Gibt es eine absurdere Herrenfrisur? Ich glaube nicht. Bert rauchte wie ein Schlot und war süchtig nach Cola. Ich hatte ihn nie besonders gemocht, zu bissig und spöttisch gab er sich. Das gefiel mir nicht. Zudem hatte ich ihn immer wieder bei kleinen Lügereien ertappt. Wer im Kleinen lügt, lügt auch im Großen, dachte ich mir, und deshalb war er mir im Laufe der Zeit immer unsympathischer geworden.
Als die gesamte Redaktion an einem Nachmittag zu einer Sonderkonferenz wegen eines schweren Zugunglücks zusammenkam, setzte sich Bert unmittelbar rechts neben mich. Der linke Stuhl blieb frei. Großbogenbelt referierte den aktuellen Stand der Dinge, ein anderer Kollege berichtete über ein Telefonat, das er kurz zuvor mit einem Augenzeugen geführt hatte. Offenbar war das Ausmaß des Unglücks viel größer als ursprünglich angenommen. Erschütternde Szenen sollten sich abgespielt haben. Zu diesem Zeitpunkt sprach man schon von dreizehn Toten und mindestens hundert Schwerverletzten.
Bert saß stumm neben mir. Kritzelte mit einem Bleistift Karomuster auf ein leeres DIN-A4-Blatt und wippte mit dem rechten Bein. Aus seinem Inneren hörte ich zunächst nichts, dafür nahm ich Braun über Braun wahr, was mich angesichts der Thematik unserer Konferenz sehr verwirrte. Sex? Bert hatte erotische Gefühlswallungen? Der Kollege sprach von zerrissenen Leibern, von durch Stahldraht geköpften Reisenden - und Bert war geil? Offenbar ja! Dann meldete sich die Stimme:
Mhmm, nachher geh ich zu Moni. Heut muss sie mich blutig schlagen. Mit der Gerte. Sie soll mir ins Gesicht pissen. Hoffentlich fesselt sie mich ans Bett. Ich werd die neue Ledermaske ausprobieren. Geil. Und dann brüllt sie mich an: Du dreckiger Bulle! Du dreckiger Ficker! Das Shit-Zugunglück. Dreizehn Tote. Dreihundert wären besser. Aber so? Eine Nullachtfuffzehn-Nummer ist das. Wahrscheinlich muss ich den Mist auch noch schreiben und komm zu spät zu Moni. Scheiße.
Seine Gedanken widerten mich dermaßen an, dass ich aufstand und zur Toilette ging. Ich wusch mir die Hände, trank etwas Wasser und stellte mich für ein paar Minuten ans geöffnete Fenster. Als ich zurück an den Konferenztisch kam, setzte ich mich auf einen anderen noch freien Stuhl. Neben Marion: um die dreißig, seit einem Jahr bei uns angestellt, übergewichtig, strohblond gefärbte mittellange Haare, rot lackierte Fingernägel, dezentes Make-up, ehrgeizig. In Sitzungen leitete sie ihre Redebeiträge gern mit den Worten ein: »Nach meinem journalistischen Selbstverständnis ...«
Was mir immer äußerst albern erschien, auf Großbogenbelt aber Eindruck machte. Sie hatte, wie man so sagt, eine freche Schnauze und neigte, ebenso wie Bert, zu spöttischen und bissigen Bemerkungen. War dabei jedoch weitaus moderater und zurückgenommener als er. In ihrer Freizeit spielte sie Golf und ging, das hatte mir Isabelle einmal verraten, auf Ü-30-Single-Partys. Solange wir Marion kannten, war sie solo gewesen.
Gewundert hatte mich immer, dass sie sich mir gegenüber stets nett und zuvorkommend verhielt. Ich konnte es mir nicht erklären, denn mit Sicherheit entsprach ich nicht ihrer Idealvorstellung von einem engagierten Journalisten. Da sie mir aber relativ egal war, verschwendete ich keine großen Gedanken an diese Ungereimtheit.
Nun also saß ich neben Marion.
Oh, er setzt sich neben mich. Sein Rasierwasser, super, das riecht aber toll. Muss mich auf die Konferenz konzentrieren. Ich will den Kommentar schreiben. Wenn ich nicht aufpasse, schnappt ihn mir noch ein anderer weg. Gut, dass das Unglück heute passiert ist.
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