Der Gedankenleser
nicht darauf verzichten wollen. Er war auch allzu praktisch. Denn auf diese Weise konnte ich die Verantwortung für meine Zeit aus der Hand geben. Nur in den ersten Wochen meiner Anstellung als Redakteur hatte mir die feste Tagesstruktur etwas zu schaffen gemacht. Ich war das ungebundene Leben als Student und freiberuflicher Journalist gewohnt gewesen, und dann plötzlich, von heute auf morgen, musste ich jeden Tag zur selben Zeit am selben Ort sein. Mit der Aussicht, dass sich daran in den nächsten Jahrzehnten bis zur Rente nichts mehr verändern würde. Bei diesem Gedanken fuhr mir damals ein Stich durchs Herz, den ich aber so schnell wie möglich zu vergessen suchte. Was auch gut gelang, denn die Gewissheit, ab sofort ein festes Gehalt in der Tasche zu haben, samt all den damit verbundenen Vorzügen und Annehmlichkeiten, war zu verführerisch und entsprach meinem eher vorsichtigen Naturell.
Jetzt aber, nach so vielen Jahren und nach all dem, was geschehen war, spürte ich den Stich wieder - und er war bohrender denn je.
Die Mittagspausen verbrachte ich fast immer allein. Sehr zum Erstaunen meiner Kollegen. Das kannten sie von mir nicht, und niemand, außer Karl-Heinz, verhielt sich so. Mit Lars und Isabelle war ich anfangs noch zwei- oder dreimal in die Kantine gegangen. Danach nicht mehr. Ich fand es unerträglich. Ihre Gedanken prasselten auf mich ein, und ich schämte mich für ihre Unaufrichtigkeiten. Es lag ihnen nur daran, mich als Tarnung zu benutzen, sie interessierten sich überhaupt nicht für mich. Ihre Worte heuchelten zwar Neugierde, mit ihren Gedanken aber waren sie ganz woanders. Und besonders Lars, was ich nie für möglich gehalten hätte, dachte schlecht und herablassend über mich. Bei unserem letzten gemeinsamen Mittagessen, Isabelle war gerade zur Toilette gegangen, hörte ich aus seinem Kopf:
Was bist du doch für eine öde Nummer. Deiner Alten treu bis ins Grab. Moralinsauer, wenn es darum geht, mal ein paar Falschmeldungen zu platzieren, was unserer Auflage sehr gut täte. Und ich könnte schwören, du hast den Sauhaufen hier noch kein einziges Mal mit Überstunden beschissen.
Der Einzige, zu dem ich Kontakt suchte, war Karl-Heinz. Damit aber hatte ich keinen Erfolg. Er war misstrauisch und konnte meine Initiative nicht verstehen. Er blockte ab. Vielleicht war er nach all den Jahren der Einsamkeit gar nicht mehr fähig, sich auf einen anderen einzulassen. Vielleicht war er mittlerweile so in sich verkapselt, dass er das Interesse einer anderen Person an ihm, dem Außenseiter, dem Eigenbrötler, nicht mehr als solches zu erkennen vermochte.
Die restlichen Kollegen bedeuteten mir nichts mehr. Ihre Gedanken hatten mich enttäuscht, erschüttert oder angewidert.
So also waren die Menschen? Zumindest die, mit denen ich in den vergangenen Jahren die meiste Zeit des Tages verbracht hatte. Ich sah in niemandem ein gutes Herz. Was zu akzeptieren mir sehr schwer fiel. Weil es so traurig war. Einzig von Karl-Heinz hörte ich immer wieder Gedankenfetzen, die mich anrührten. Er war ein ausgesprochen mitfühlender Mensch. Das wurde mir klar, als ich ihn einmal heimlich beobachtete und belauschte, während er eine ausgedruckte Agenturmeldung über einen Brand in einem Mehrfamilienhaus las. Acht Menschen, darunter drei Kinder und zwei Säuglinge, waren qualvoll verbrannt. Ein Kind hatte, so berichtete ein Nachbar, mit brennendem Kopf hinter den verschlossenen Scheiben eines Fensters gestanden und schweigend nach draußen gestiert.
Karl-Heinz wiederholte in Gedanken immer wieder:
Mit brennendem Kopf, mit brennendem Kopf ...
Er saß einfach da, bewegungslos über den Text gebeugt. Niemand achtete auf ihn. Und dann sah ich, wie Tränen aus seinen Augen quollen - und konnte es kaum glauben. Inmitten eines lauten Redaktionsbüros weinte ein Mann aus Mitleid. Ein Mann, der in seinem beruflichen Leben sicher schon Tausende vergleichbare Nachrichten auf den Tisch bekommen hatte.
Kein Kollege bemerkte, was sich gerade in Karl-Heinz abspielte - und er schien die Betriebsamkeit in unserer Redaktion vollkommen zu ignorieren. Als wäre er in einer anderen Welt. Und das war er sicher auch. Er ließ es dann aber nicht dazu kommen, dass die Tränen auf das Papier tropften. Mit den Fingern seiner rechten Hand wischte er sie schnell beiseite, griff zu einer vor ihm liegenden Zeitung und tat so, als würde er darin lesen. Aber er las gar nicht darin. Die Stimme war stumm. Dafür zog vor
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