Der Gedankenleser
viel schlimmer machte. War dann endlich Feierabend, trottete ich missmutig nach Hause. Und statt dass ich die freie Zeit genossen hätte, plagte mich die Angst vor dem nächsten Tag, den es ja auch wieder so schnell wie möglich zu vernichten galt. War es erlaubt, so zu leben?
Mein Thema bekam ich Gott sei Dank einigermaßen in den Griff, was mich etwas entspannte. Nicht auszudenken, hätte ich vor Großbogenbelt und den anderen Kollegen eingestehen müssen, dass ich trotz stundenlanger Recherche keinen Schritt vorangekommen war.
Als ich am späten Nachmittag eine Weile am Kopierer zu tun hatte, war plötzlich die Stimme wieder da. Ein paar Stunden hatte ich ihr aus dem Weg gehen können, was mir gut bekommen war. Nun aber verlangte sie mir meine ganze Aufmerksamkeit ab.
Überall ist der Tod.
Hörte ich zunächst. Und dann zog ein überwältigendes Grün durch mein Inneres. Irgendjemand in meiner Nähe war also in trauriger Stimmung. Ich drehte mich um und sah Karl-Heinz. Er galt als der große Außenseiter in unserem Team. Ende fünfzig, verschlossen, immer distanziert, und niemand wusste Genaueres über ihn und sein Leben. Er erledigte seine Arbeit, war ein durchschnittlicher Schreiber, kam pünktlich und ging pünktlich. Ich hatte mit ihm in all unseren gemeinsamen Kollegenjahren noch nie ein längeres Gespräch geführt. Was schon erstaunlich war, da wir damals fast zeitgleich in unserem Verlag angefangen hatten. Ich mochte ihn einfach nicht, und er war mir fremd. Ich muss gestehen, dass ich ihn sogar für einen schlechten Menschen hielt. Was ein ungerechtes Urteil war, denn er hatte sich mir oder, soweit ich das beurteilen konnte, den anderen gegenüber kein einziges Mal übel verhalten. Er war nur verschroben und eigentlich immer unfreundlich.
Nun stand er schräg hinter mir, wartete offensichtlich darauf, dass ich mit dem Kopieren fertig würde, und blickte dabei ausdruckslos in unser Großraumbüro.
Überall ist der Tod.
Hörte ich erneut.
Jeder hier im Raum wird in hundert Jahren zerstört sein. Verfault. Verbrannt. Ausgelöscht. Auch ich. In Anbetracht des Todes ist alles sinnlos. Es gibt keine Hoffnung. Der letzte Herzschlag wird mich ins Nichts reißen. Warum überhaupt leben, wenn es doch so endet? Warum sich mühen? Überall Dunkelheit. Am liebsten würde ich nur schlafen. Ich hab Angst vor den Menschen. Vor ihren Blicken. Warum bring ich mich nicht um? Niemand würde mich vermissen. Niemand.
Ich war nichts. Bin nichts. Werde nichts sein.
Mir lief ein Schauder über den Rücken. Mit einer schnellen Kopfdrehung wandte ich mich zu Karl-Heinz und schaute ihn wohl entsetzt oder auch fragend an, ich weiß es nicht. Er erwiderte sofort meinen Blick und deutete meine Mimik vermutlich dahingehend, dass ich mich von ihm bei meiner Kopierarbeit gehetzt oder bedrängt fühlte. So sagte er trocken und ernst: »Na gut, dann komme ich eben später wieder.« Und weg war er.
Die wenigen Gedanken meines Kollegen Karl-Heinz machten mir deutlich, dass ich ihm wohl all die Jahre Unrecht getan hatte. Er war ein deprimierter und einsamer Mensch. Vielleicht litt er sogar an einer seelischen Erkrankung. Soweit man das Verzweifeln an der Welt und dem Leben immer unbedingt als seelische Erkrankung einordnen muss.
Um siebzehn Uhr dreißig war mein erster Arbeitstag zu Ende. Ich packte schnell meine Sachen zusammen, nahm meine Tasche, und mit einem hastigen Tschüss-dann-bis-morgen verabschiedete ich mich von den anderen. Als sich die Haupteingangstür unseres Verlagshauses hinter mir schloss, atmete ich auf. Sofort war mir leichter zumute. Kein Mensch in meiner Nähe und einen freien Abend vor mir. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr los.
An diesem Tag fing ich mit dem Cruisen an. Also dem ziel- und eigentlich auch sinnlosen langsamen Umherfahren durch die Stadt oder übers Land. Früher hatte ich so etwas nie getan. Es wäre mir absurd vorgekommen, und mein ökologisches Gewissen hätte es niemals zugelassen. Aber darum scherte ich mich nun nicht mehr. Ich genoss es, über die Straßen zu gleiten, hörte dabei Frank Sinatra oder Johnny Cash und ließ meinen Gedanken freien Lauf.
12
Nach ungefähr vier Wochen lagen meine Nerven blank.
Jeder Arbeitstag wurde qualvoller als der vorhergegangene.
Zwar schaffte ich es so eben noch, einigermaßen akzeptable Artikel zu schreiben, aber der Widerwille gegen meinen Alltag war kaum mehr auszuhalten.
Ich hasste es schon,
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