Der Gedankenleser
Morgen hab ich frei, und die Sache wäre mir durch die Lappen gegangen. Mit so was kann man sich gut profilieren. Viele Tote und Verletzte. Sehr gut. Umso betroffener kann ich schreiben. Ob mein Schreibstil Arne beeindruckt? Oh, sein Oberschenkel hat mich berührt. Absichtlich?
Ich zuckte augenblicklich zurück.
Schade. War schön, ihn zu spüren. Seine Körperwärme. Ich könnt mir für den Kommentar ein paar Zitate von Angehörigen ausdenken. Das drückt immer gut auf die Tränendrüse. Wie süß sein Drei-Tage-Bart ist. Würde jetzt gern sein Gesicht streicheln. Muss morgen unbedingt mit Großbogenbelt essen gehen. Krieg das Arschloch schon noch rum. Ein paar Komplimente, ein bisschen Flirten, und dann hab ich die Urlaubsvertretung in London. London ist genial. Dieses lästige Zugunglück. Ich muss mich jetzt mal einbringen und was Schlaues von mir geben. Vor allem Lars plattquatschen, sonst kriegt der noch den Kommentar. Und mein süßer Arne sagt mal wieder gar nichts ...
Marion war also scharf auf mich. Nichts hatte ich früher davon mitbekommen. Im Nachhinein fielen mir dann durchaus einige Bemerkungen von ihr ein, die mich auf diese Fährte hätten bringen können. Sie aber entsprach so wenig meinem Frauentyp, dass mich solcherlei Signale überhaupt nicht erreichen konnten. Und ich muss gestehen, ihr Begehren war mir unangenehm, ja, ein wenig ekelte ich mich sogar davor. Deshalb zeigte ich Marion nach jenem Nachmittag die kalte Schulter und ging ihr aus dem Weg.
Es waren vor allem die großen Geheimnisse der Kollegen, die meine Meinung über sie formten, aber ebenso die vielen kleinen Gedankenfetzen, kurze Sätze, oftmals nur einzelne Worte, die ich immer wieder aufschnappte.
Ich kann nicht alles berichten. Vieles habe ich vergessen. Deshalb beschränke ich mich hier auf die Erinnerungen, die klar sind, die sich mir tief eingeprägt haben.
Unsere jüngste Sekretärin zum Beispiel, Corinna, vierundzwanzig Jahre alt, hager und durchaus hübsch, war anderen Frauen gegenüber voller Missgunst. Jedes weibliche Wesen, das unsere Redaktion betrat, scannte sie förmlich ab. Und je attraktiver die Frauen waren, desto boshafter wurden ihre gedanklichen Kommentare:
Große Titten, hohle Birne. Der Rock ist viel zu kurz. Schminke viel zu dick aufgetragen. Und wie sie mit ihrem Arsch wackelt, die Ziege. Kann die Kerle absolut nicht verstehen, die auf so eine Heißdüse reinfallen.
Von Jan-Maurice, einem unserer aufstrebenden Nachwuchsredakteure, bekam ich mit, dass er niemandem Lob oder Erfolg gönnte. Zwar war er immer und zu allen überaus freundlich, aber hinter dieser Maske wucherte der pure Neid. Als Lars einmal während einer Betriebsversammlung von unserem Verlagsleiter für eine Reportage ausdrücklich beglückwünscht wurde, saß ich neben Jan-Maurice.
Na großartig, dafür kriegt er Lob vom Alten. Ich hätt die Reportage viel besser geschrieben. Spannender, genauer, eindringlicher. Der Alte wird langsam senil. Und Lars kommt sich jetzt noch toller vor. Dieser Idiot. Wie er da sitzt und eingebildet grinst. Er kann nicht mal mit so einer Situation souverän umgehen.
Wenn auch zu diesem Zeitpunkt mein Verhältnis zu Lars bereits zerstört war, so ergriff ich innerlich doch Partei für ihn. Denn objektiv gesehen war seine Reportage wirklich gut. Daran gab es keinen Zweifel. Die Anerkennung des Verlagsleiters war durchaus gerechtfertigt. Und Lars hatte nicht eingebildet gelächelt, das wusste ich, dazu kannte ich ihn viel zu genau. Er war schlichtweg verlegen gewesen.
Am Ende der Versammlung ging Jan-Maurice gezielt auf Lars zu, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, gratulierte zu dem Erfolg und sagte mit ernstem Gesichtsausdruck: »Du hast es wirklich verdient.«
Außerdem war da Markus, einer der Verlagsfotografen, der auch in unserer Redaktion ein und aus ging. Ich hatte ihn stets recht nett gefunden. Wir hielten seit Jahren immer wieder mal ein Schwätzchen, und ich genoss dabei seine sensationell tiefe Stimme. Er hätte bestimmt eine große Karriere als Radio-Moderator oder Synchronsprecher machen können, aber seine Leidenschaft war seit jeher die Fotografie gewesen. Sein Bass klang manchmal so dröhnend, dass mir die Genitalien vibrierten. Ich glaube, alle Frauen im Verlag träumten davon, nur einmal im Leben morgens von einer solchen Stimme geweckt zu werden. Markus hatte pechschwarze kurze Haare, einen starken Bartwuchs, und sein
Weitere Kostenlose Bücher